Ist Deutschland „künstlich intelligent" genug?
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Eine Bestandsaufnahme soll zeigen, ob Deutschland mit Ländern wie den USA, Kanada und China im Bereich Künstliche Intelligenz mithalten kann
Künstliche Intelligenz (KI) ist das Buzzword, wenn es um Schlüsseltechnologien für das 21. Jahrhundert geht. Angeblich hinkt Deutschland in diesem Bereich den USA, China oder Kanada hinterher – nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Wissenschaft. Ist das wirklich so? Warum nutzen dann immer mehr internationale Studierende die Möglichkeit, mithilfe von DAAD-Programmen wie RISE Germany in Deutschland ihre Kenntnisse zu vertiefen und ihre Berufschancen zu verbessern? Eine Bestandsaufnahme.
Die US-Amerikanerin Lisa Meyer-Baese (20) findet Deutschland einfach gut. Das hat zwei Gründe: Sie kann endlich ihre deutschen Verwandten in Kassel besuchen und sie fühlt sich pudelwohl an der Uniklinik der RWTH Aachen. Hier arbeitet die Bachelorstudentin in der Arbeitsgruppe „Experimentelle Verhaltenspsychobiologie“ mit. „Die Betreuung durch Professor Klaus Mathiak und seine Mitarbeitenden ist einfach klasse. Dadurch lerne ich sehr viel“, sagt Meyer-Baese, die an der Georgia Tech in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia Biomedical Engineering studiert. In ihrem Praktikum beschäftigt sie sich mit der Frage, welchen Einfluss die Händigkeit (Rechts- oder Linkshänder) auf die anatomische Struktur des Gehirns hat. Sie arbeitet dabei mit einem großen Datensatz von MRT-Bildern mit Kontrastdarstellung, um Modelle beziehungsweise Methoden für die optische Industrie zu entwickeln. Meyer-Baese gehört zu jenen 316 Bachelorstudierenden aus den USA, Kanada, Großbritannien und Irland, die der DAAD in diesem Jahr mit seinem Programm RISE Germany unterstützt, damit sie Erfahrungen in der deutschen Forschung oder Wirtschaft sammeln können. Die Studierenden kommen aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften und nutzen die Chance, in diversen Projekten von Doktorandinnen und Doktoranden betreut zu werden.
Die US-Amerikanerin Lisa Meyer-Baese arbeitet im Rahmen des Programms RISE Germany an der Uniklinik der RWTH Aachen
Neue Erfahrung: ein Praktikum in Deutschland
Diese Erfahrung macht auch die Kanadierin Tanvi Patil (19). Sie ist begeistert vom Programm und ihrem Praktikum an der Technischen Hochschule Köln: „Für mich ist das eine sehr gute Erfahrung, weil ich hier sehr viel über Cybersicherheit lerne.“ In ihrem aktuellen Projekt beschäftigt sich die Studentin der Computer Science an der University of North Carolina in Charlotte mit verschiedenen Formen des Logins. Für sie sind die positiven Erfahrungen in Deutschland auch ein Grund, nach dem Studium nach Deutschland zurückzukehren: „Experten in Computer Science und Künstlicher Intelligenz sind hier sehr gefragt.“
Die Kanadierin Tanvi Patil macht über RISE Germany ein Praktikum an der Technischen Hochschule Köln
Eine komplett neue Erfahrung macht derzeit Uma Wu (22). Die Kanadierin aus Vancouver arbeitet in einem Projekt an der Uniklinik Heidelberg mit Medizinerinnen und Medizinern zusammen. In dem interdisziplinären Team ist die Computer-Science-Studierende der British Columbia University diejenige, die die meiste Erfahrung in Künstlicher Intelligenz und Maschinenlernen hat. Das hilft dem gesamten Team, das sich mit dem Einsatz der Robotik bei Operationen und der Virtual Reality in der Endoskopie beschäftigt. „Meine Zeit in Heidelberg ist sehr intensiv, weil ich viel über die Chirurgie lerne und mithelfen kann, die Performance der Operateure durch KI künftig zu verbessern“, erzählt Wu.
Die Kanadierin Uma Wu arbeitet über RISE Germany in einem interdisziplinären Team der Universitätsklinik Heidelberg mit
RISE Germany: Das Praktikum boomt
Die drei Frauen stehen für einen Trend: Die Nachfrage nach jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Ingenieurinnen und Ingenieuren mit internationaler Erfahrung ist in der deutschen Wirtschaft und Forschung stark gestiegen. Gleichzeitig ist das Interesse von ausländischen Studierenden oder Postdocs gewachsen, in Deutschland Erfahrungen in der Informatik oder den Ingenieurwissenschaften zu sammeln. Denn Deutschland genießt weltweit einen sehr guten Ruf als Land der Ingenieure. „Wir hatten in diesem Jahr für 316 Praktikantenstellen insgesamt 1.900 Bewerbungen von Bachelorstudierenden“, erzählt Michaela Gottschling, die beim DAAD das Programm RISE Germany (Research Internships in Science and Engineering) betreut. „Die Bewerber finden besonders interessant, dass sie während des Praktikums in den Laboren der Universitäten, Kliniken oder Unternehmen arbeiten können und dabei von Doktoranden in englischer Sprache angeleitet werden.“ Auch auf das Trendthema KI hat das Programm reagiert: Neben den Ingenieurwissenschaften, Biologie, Erdkunde, Physik und Chemie werden jetzt auch Praktikumsplätze in Computer Science angeboten. Allein in diesem Jahr vergab der DAAD für diesen Bereich 30 Stipendien.
Das Interesse, in Deutschland Erfahrungen in der Informatik oder den Ingenieurwissenschaften zu sammeln, ist bei ausländischen Studierenden oder Postdocs gewachsen
Steigender Trend: das Studium der Ingenieurwissenschaften
Diesen Trend verzeichnen auch die deutschen Universitäten und Fachhochschulen: Die Ingenieurwissenschaften bilden mit 39 Prozent die beliebteste Fächergruppe bei Bildungsausländerinnen und -ausländern. Denn in einem ingenieurwissenschaftlichen Studiengang sind allein ein Drittel der internationalen Studierenden an deutschen Universitäten sowie die Hälfte von ihnen an deutschen Fachhochschulen immatrikuliert.
Besonders an den Universitäten ist die Zahl um das Doppelte angestiegen – von etwas mehr als 30.000 Studierenden im Jahr 2010 auf 63.540 im Jahr 2017. Ein Beispiel: An der TU Dresden, deren Fakultät für Informatik zu den deutschen Leuchtturmprojekten im Bereich Internet der Dienste, Cloud Computing, Datensicherheit, BigData und Interactive Visual Computing gehört, stieg im Bachelorstudiengang Informatik die Zahl von 55 internationalen Studierenden im Wintersemester 2016/2017 um fast das Doppelte auf 107 im Wintersemester 2018/2019 an. Der Masterstudiengang Informatik verzeichnete eine ähnliche Entwicklung: von 20 im Wintersemester 2016/2017 auf 37 immatrikulierte Bildungsausländerinnen und -ausländer im Wintersemester 2018/2019.
Entwicklung der Zahlen internationaler Studierender in ausgewählten Studiengängen mit KI-Bezug an der Technischen Universität Dresden
Neue Anreize: Technologiezentrum für KI
Eine andere Stadt, aber fast derselbe Trend: das Deutsche Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken. Hier arbeiten und forschen derzeit etwa 590 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie mehr als 460 studentische Mitarbeitende aus mehr als 65 Nationen. Die angeschlossene Graduiertenschule auf dem Campus der Universität des Saarlandes verzeichnete im vergangenen Semester 18 Prozent mehr immatrikulierte internationale Studierende als im Jahr zuvor. Sie kommen aus Indien, Pakistan und China oder aus Russland und Kasachstan. Woran das liegt? „Dafür gibt es zwei Gründe“, sagt Professor Antonio Krüger, der am DFKI wissenschaftlicher Direktor im Forschungsbereich Kognitive Assistenzsysteme ist: „Das Institut ist einerseits seit 30 Jahren bekannt dafür, dass es sich mit dem Thema KI und seinen verschiedenen Anwendungen beschäftigt. Andererseits schaffen wir für hochgradig motivierte Masterstudierende die Möglichkeit, ihre Abschlussarbeiten im industriellen Umfeld zu schreiben.“ Im Wintersemester 2019/2020 wird der Automobilzulieferer ZF Friedrichshafen AG auf dem Saarbrücker Campus der Saar-Uni ein neues Technologiezentrum für KI und Datensicherheit eröffnen, um gemeinsam mit dem DFKI selbstlernende Programme für autonome Fahrzeuge und die Produktionssteuerung des Konzerns zu erforschen. Das schafft neue Anreize für internationale Studierende − ebenso wie der Plan, den Bachelorstudiengang in Informatik komplett auf Englisch anzubieten. Bereits seit dem Wintersemester 2006/2007 wird im Masterstudiengang nur auf Englisch unterrichtet. Damit sind, so Krüger, wichtige Anforderungen im internationalen Wettbewerb um die klügsten Köpfe erfüllt, und es wird sehr deutlich gezeigt: „Ein Informatikstudium in Deutschland ist eine ‚super Sache‘.“
Professor Antonio Krüger: „Das Deutsche Forschungsinstitut für KI in Saarbrücken ist seit 30 Jahren dafür bekannt, dass es sich mit KI und den verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten beschäftigt."
Deutschlandtour zu den KI-Standorten
Das DFKI in Saarbrücken war auch Station der Postdoctoral Networking Tour 2018, die der DAAD organisiert hatte, damit internationale Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler deutschlandweit Universitäten, Institute und Unternehmen kennenlernen konnten, die über KI und ihre Anwendungen in der Industrie forschen und arbeiten. „Viele der 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren schon international mobil; sie kamen unter anderem aus den USA, Kanada, China, Indien, Singapur, Vietnam und waren sehr neugierig darauf, wie im Land der Ingenieure Unternehmen und Institute KI anwenden und beispielsweise in der Robotik umsetzen“, erzählt Julia Hillmann, die beim DAAD die Tour mitorganisiert und betreut hat. „Die Resonanz nach der Tour war enorm positiv.“ Die Postdocs lobten den Standort Deutschland wegen seiner Forschungsstrukturen und seiner Lebensqualität. DAAD-Mitarbeiterin Hillmann zeigt sich erfreut: „72 Prozent der Teilnehmenden gaben im Anschluss an, einen Forschungsaufenthalt in Deutschland zu planen, und jeder Fünfte kann sich vorstellen, in einem deutschen Unternehmen zu arbeiten.“
Mittelstand: neue Impulse aus der Forschung
Vermutlich macht deshalb bei der diesjährigen Postdoctoral Networking Tour, die Ende September stattfindet, auch ein Hidden Champion aus dem ostwestfälischen Verl mit: die Beckhoff Automation. Mit seiner PC-basierten Steuerungs- und Antriebstechnik liegt das Unternehmen auch im Bereich Industrie 4.0 ganz weit vorn. „Wir freuen uns darauf, den ausländischen Nachwuchswissenschaftlern unsere Technik zu präsentieren und mit ihnen neue Ansätze in der KI und in Industrie 4.0 zu diskutieren“, sagt Dr. Ursula Frank, Projektmanagerin für Forschung und Entwicklungskooperationen. „Das ist für uns eine Win-win-Situation, weil wir gerade als mittelständisches Unternehmen immer aufgeschlossen sind gegenüber Impulsen und neuen Ideen aus der Forschung.“ Daher ist Beckhoff auch Mitglied im Technologie-Netzwerk „it's OWL“, in dessen Projekten Wirtschaft und Forschung gemeinsam Industrie-4.0-Lösungen entwickeln. „Mit der Teilnahme an der Postdoctoral Networking Tour 2019 des DAAD beschreiten wir einen neuen Weg, um junge ausländische Wissenschaftler besser und einfacher kennenzulernen.“
Dr. Ursula Frank, Projektmanagerin für Forschung und Entwicklungskooperationen, Beckhoff Automation
Deutschland: ein Industriemuseum?
Was bleibt nach dieser Bestandsaufnahme? Haben Kritiker wie BDI-Präsident Dieter Kempf recht, wenn sie mehr Ehrgeiz und Schnelligkeit beim Thema KI anmahnen, um gegenüber den USA, Kanada oder China aufzuholen? Mangelnder Ehrgeiz oder Langsamkeit scheinen nicht das Problem zu sein − im Gegenteil. Der Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland ist gut aufgestellt, wenn es um die Schlüsseltechnologien für das 21. Jahrhundert geht. Das zeigen Leuchtturmprojekte wie das DFKI oder die TU Dresden, die steigende Zahl ausländischer Studierender, die sich besonders für die Verknüpfung von KI und Industrie 4.0 interessieren, oder der DAAD, der mit seinen Programmen wie RISE Germany oder IFI (Internationale Forschungsaufenthalte für Informatikerinnen und Informatiker) die gesamte Karrierephase vom Studienbeginn bis zur Postdoc-Phase abdeckt und dadurch Leistungsträger in Deutschland hält. Es wird also noch dauern, bevor Amerikaner und Chinesen eines Tages Deutschland besuchen werden, um sich hier ein Industriemuseum des 20. Jahrhunderts anzuschauen.
Michael Siedenhans (8. August 2019)
Weitere Informationen
Programm RISE Germany (Research Internships in Science and Engineering)
Praktikumsplätze in: Biologie, Chemie, Computer Science, Erdkunde, Ingenieurwissenschaften und Physik