Europäische Bildungszusammenarbeit in der Praxis
Daniel Schumann
Prof. Dr. Hermann Josef Abs ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.
Die europäische Bildungspolitik tritt in eine neue Phase ein. So hat die Europäische Kommission im Herbst vergangenen Jahres ihre Ziele zur Schaffung eines Europäischen Bildungsraums bis 2025 vorgestellt. Auch der Rat der Europäischen Union hat im Frühjahr seine Ziele bis 2030 im neuen strategischen Rahmen für die europäische Bildungszusammenarbeit veröffentlicht. Einen großen Beitrag zur Erreichung dieser Ziele leistet das Erasmus+ Programm.
Eine Förderlinie des Programms, die sich an den politischen Schwerpunktsetzungen im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung orientiert, sind die Europäischen Experimentellen Maßnahmen der Erasmus+ Leitaktion 3: Politikunterstützung. Unter dieser Förderlinie werden länderübergreifende Projekte unterstützt, die innovative Maßnahmen durch Feldversuche im Bereich der allgemeinen Bildung unter Federführung hochrangiger Behörden testen.
Besonders erfreulich: Die Auswahlergebnisse der Ausschreibung 2020 haben gezeigt, dass deutsche Institutionen ein großes Interesse an den Europäischen Experimentellen Maßnahmen haben. So sind deutsche Institutionen an sieben von insgesamt elf neuerlich geförderten Projekten beteiligt. Damit ist die Beteiligung deutscher Institutionen deutlich höher als in vorherigen Ausschreibungen.
Prof. Dr. Hermann Josef Abs ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und nutzt für seine Forschung zur Lehrerbildung europäische Förderformate. Im Interview stellt er seine Erfahrungen mit den Europäischen Experimentellen Maßnahmen und die Erkenntnisse aus seinen Projekten vor.
Herr Prof. Abs, auf der aktuellen Agenda der europäischen Bildungspolitik steht die Unterstützung von Lehrkräften im Fokus. Warum ist das so?
Europäische Bildungspolitik steht vor der Herausforderung, die Kohärenz von Europa als Bildungsraum zu erhöhen. Zugleich verfügt die EU in der Bildungspolitik nur über ein subsidiäres Mandat, und es zeigt sich auf der Ebene der Mitgliedsstaaten keine Bereitschaft, Kompetenzen zur Gestaltung der Bildungssysteme auf die europäische Ebene zu verlagern. Um unter diesen Vorgaben einen produktiven Beitrag zu leisten, gilt es, Themen zu definieren, die in allen Bildungssystemen als Problem anerkannt sind und zu denen in den Ländern selbst nach neuen Lösungen gesucht wird. Die Gewinnung von Lehrkräften, ihre Aus- und Weiterbildung, aber auch ihr Verbleib im Beruf bis zur Pensionierung stellt ein solches Problem dar.
In Ihrem Projekt „A New Way for Talents in Teaching (NEWTT)“, welches von 2016 bis 2019 unter den Europäischen Experimentellen Maßnahmen gefördert wurde, sollen unter anderem Beiträge zur Bewältigung des EU-weiten Lehrermangels erarbeitet werden. Welche Erkenntnisse konnten Sie erlangen?
Der Ansatz im Projekt NEWTT bestand darin, ein Programm für den Seiteneinstieg in den Lehrerberuf so profiliert zu gestalten, dass Absolventinnen und Absolventen aus Nicht-Lehramtsstudiengängen erfolgreich sein können. Wir haben dazu das Programm der amerikanischen NGO „Teach For All“ begleitet, das mit Anpassungen in mehr als der Hälfte der EU-Mitgliedsstaaten eingesetzt wird. Es spricht Absolventinnen und Absolventen an, die bereit sind, sich einem aufwendigen Auswahlverfahren zu stellen und danach einen Kurs zu absolvieren, der Onlineelemente und Präsenztrainings umfasst. Dieses Programm haben wir zum Seiteneinstig in Bulgarien, Lettland, Spanien, Österreich und Rumänien erfolgreich getestet. Neben dem kriteriengeleiteten Auswahlverfahren gibt es noch weitere charakteristische Merkmale. Erstens weisen Onlinekurse und Training eine höhere Kohärenz auf als die traditionelle, universitäre Lehrerbildung, das heißt, die Inhalte bauen erkennbar aufeinander auf. Zweitens ist die theoretische Ausbildung durch einen höheren Praxisbezug gekennzeichnet – die Inhalte beziehen sich also enger auf das Tätigkeitsfeld von Lehrpersonen. Drittens gibt es in dem relativ kurzen Programm mehr Mentoring – im Sinne von Unterrichtsbesuchen mit anschließender Besprechung – als in den universitären Programmen der beteiligten Länder. Im Zusammenwirken dieser Charakteristika erreichen die Absolventinnen und Absolventen nach zwei Jahren ein pädagogisches Wissen, das mit beginnenden Lehrkräften aus dem regulären System vergleichbar ist.
Seit ein paar Monaten wird ein weiteres Projekt Ihrer Professur unter den Europäischen Experimentellen Maßnahmen gefördert. Inwiefern baut das Projekt „Novice Educator Support and Training (NEST)“ auf den gewonnenen Erkenntnissen des vorherigen Vorhabens auf?
Auch in NEST geht es um die Qualifikation von Lehrkräften. Zudem arbeiten wir zum größten Teil mit denselben Partnerinstitutionen zusammen. Da das Projekt unter Pandemiebedingungen vorbereitet wurde, war es gut, unter den Antragstellenden ein verlässliches Netzwerk zu haben. Im Rahmen des Projekts sollen Methoden und Inhalte des Mentorings so weiterentwickelt werden, dass sie insbesondere beginnende Lehrkräfte an benachteiligten Schulen unterstützen. Dazu wurde zunächst für die jetzt sieben teilnehmenden Schulsysteme ermittelt, welche Merkmale benachteiligte Schulen kennzeichnen. Daran anknüpfend wird die Ausbildung von Mentorinnen und Mentoren so weiterentwickelt, dass sie den besonderen Bedürfnissen von Lehrkräften an benachteiligten Standorten gerecht wird. Dazu gehören zum Beispiel die höheren Anforderungen an den Aufbau einer tragfähigen Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern. Wie im vorauslaufenden Projekt ist meine Professur für das quasi-experimentelle Design, die Entwicklung der Befragungsinstrumente und -tests sowie für die Durchführung der Evaluation zuständig.
Warum haben sich die Projektkonsortien für die Europäischen Experimentellen Maßnahmen entschieden?
Das Spannende bei den Europäischen Experimentellen Maßnahmen ist die Einbindung der getesteten Maßnahmen in die Entwicklung von Politik: Schon für den Vorantrag müssen sich Bildungsministerien sowie die Maßnahmenentwicklerinnen und -entwickler darauf einigen, ob eine Maßnahme infrage kommt, um die Regelpraxis im entsprechenden Bildungssystem zu erweitern oder zu verändern. Nur mit einer Beteiligung der politikgestaltenden Einheiten in den jeweiligen Bildungssystemen haben die Anträge eine Chance auf Erfolg. Für die Projektergebnisse stehen folglich schon zu Beginn die Ansprechpartnerinnen und -partner fest. Wenn man als Forscherin oder Forscher im Rahmen des jeweiligen Projekts keine grundstürzende kritische Position zu den europäischen Bildungssystemen einnehmen will, sondern sich eher in der Rolle sieht, kleinen Veränderungen zum Durchbruch zu verhelfen, dann sind die Europäischen Experimentellen Maßnahmen das richtige Format. Meiner Auffassung nach ist es für die EU gut geeignet, um die Bildungspolitik in den Mitgliedsländern zu unterstützen.
Interview: Kathrin Herres (4. Mai 2021)
Weitere Informationen
Als eine Abteilung des DAAD bearbeitet die Nationale Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit Themen der Erasmus+ Politikunterstützung, des Bologna-Prozesses und des ASEM-Bildungsprozesses.
Erasmus+ Leitaktion 3: Politikunterstützung: Das Ziel ist die Stärkung europäischer Bildungssysteme. Länderübergreifende Kooperationsprojekte, die Förderung einer sektorübergreifenden Zusammenarbeit sowie die Verzahnung zwischen Hochschulen und Politik bilden den Rahmen dieser Leitaktion. Im Fokus der Aufrufe stehen die jeweiligen politischen Schwerpunktsetzungen europäischer Bildungspolitik. Neue Aufrufe zur Erasmus+ Leitaktion 3: Politikunterstützung werden im Herbst 2021 erwartet. Allgemeine Informationen zur Ausrichtung der Leitaktion 3 finden Sie hier.
Europäische Experimentelle Maßnahmen: Als Teil der Erasmus+ Leitaktion 3: Politikunterstützung werden unter der Förderlinie Europäische Experimentelle Maßnahmen länderübergreifende Projekte gefördert, die innovative politische Maßnahmen im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung testen und durchführen. Projekte dieser Förderlinie zeichnen sich insbesondere durch die Federführung hochrangiger Behörden aus.
Auswahlergebnisse 2020: Die Auswahlergebnisse der Ausschreibung 2020 der Förderlinie Europäische Experimentelle Maßnahmen sind hinsichtlich der Beteiligung deutscher Institutionen besonders positiv ausgefallen. Insgesamt werden elf Projekte mit einer Laufzeit von 24 bis 36 Monaten gefördert. An sieben dieser Projekte sind deutsche Institutionen beteiligt. Somit gibt es in 64 Prozent aller Projektkonsortien eine deutsche Beteiligung. Drei dieser Projekte werden von deutschen Institutionen koordiniert. Damit ist die Beteiligung deutscher Institutionen deutlich höher als in den vorherigen Ausschreibungen. Weitere Informationen finden Sie hier.