Auf deutsch-brasilianischer Spurensuche: Grimm-Preisträger Paulo Astor Soethe
Fany Fazii
Paulo Astor Soethe vor dem Historischen Lesesaal der Universität Tübingen
Paulo Astor Soethe, Professor für Germanistik an der Universidade Federal do Paraná in Curitiba in Brasilien, erhält 2015 den renommierten Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preis des DAAD. Der Germanist untersucht den wechselseitigen Einfluss der Literatur in den deutsch-brasilianischen Beziehungen. Er fördert den Austausch auch, indem er regelmäßig renommierte deutschsprachige Wissenschaftler wie die Kulturwissenschaftlerin Professor Aleida Assmann oder den Theologen Professor Hans Küng zu Vortragsreisen nach Brasilien einlädt. Die Auszeichnung aber erhielt der DAAD-Alumnus insbesondere für seine kulturhistorische Arbeit und sein sprachenpolitisches Engagement.
Professor Soethe, Sie setzen sich in ihrem Heimatland außergewöhnlich stark für das Erlernen der deutschen Sprache ein. Welche Bedeutung hat Deutsch für Brasilien?
Paulo Astor Soethe: Brasilien und Deutschland kooperieren seit Langem in Wissenschaft und Wirtschaft. Die moderne Entwicklung und Gestaltung unserer Welt in der Globalisierung treibt diese Zusammenarbeit immer weiter voran. Aber es gibt noch eine zweite, eine kulturhistorische Dimension, weshalb Deutsch so eine wichtige Sprache für Brasilianer ist, und die ist oft weniger bekannt: Mindestens 350.000 Deutsche emigrierten im 19. Jahrhundert nach Brasilien. Sechs Millionen Brasilianer sind heute zumindest teilweise deutschstämmig und die deutsche Sprache spielt in ihren Familiengeschichten eine sehr große Rolle. Mich betrifft das persönlich: 1871 wanderte ein Herr Soethe aus Schöppingen bei Münster nach Brasilien aus und weitere Vorfahren von mir kommen aus der Bodenseeregion und aus Niederbayern. Für hunderttausende brasilianische Familien besteht in bestimmten Regionen Brasiliens dieser Bezug zu Deutschland bis heute.
Warum benötigt das Land trotzdem mehr Deutschlehrer an Schulen?
In der deutschen Sprache liegt ein großes Potenzial für die Sprachenpolitik in Brasilien. 85 Prozent aller Schüler in Brasilien – 42 Millionen Kinder und Jugendliche – besuchen öffentliche Schulen. 2012 gab es für sie 75.000 Englischlehrer, aber nur 135 Deutschlehrer. Interessant ist, dass rund 80 dieser Deutschlehrer von kleinen, zumeist ländlichen Gemeinden finanziert werden. Die Gemeinden investieren hier aus eigener Initiative, um den Kindern eine bessere Zukunftsperspektive zu geben. Das wirft ein Licht auf die Bedeutung von Deutsch in bestimmten Regionen Brasiliens. Dieser Rückhalt in der Bevölkerung und eine systematische Unterstützung des Deutschunterrichts bei uns, dessen Qualität durch die gute Zusammenarbeit zwischen deutschen und brasilianischen Institutionen schon jetzt gewährleistet wird, könnten gut dazu dienen, durch stärkere Berücksichtigung des Angebots an öffentlichen Schulen das System des brasilianischen Fremdsprachenunterrichts zu verbessern.
Mateus Rosa
Paulo Astor Soethe bei der Eröffnung einer Veranstaltung zum deutschsprachigen Theater im Rahmen des Deutschlandjahres 2013/14 in Brasilien
Im Rahmen Ihrer Forschungsarbeiten setzen Sie sich außerdem für die Wiederentdeckung von brasilianischen Dokumenten in deutscher Sprache ein – weshalb?
Es gab bis vor 75 Jahren rund 1.000 deutsche Schulen in Brasilien, die von den Immigrantengemeinden organisiert wurden. 180 zum Teil überregionale und für die politischen Debatten der Zeit sehr relevante Zeitungen erschienen in Brasilien in deutscher Sprache. In Großstädten wie Joinville, der drittgrößten Stadt Südbrasiliens mit 750.000 Einwohnern, gab es noch in den 1930er-Jahren acht Theatergruppen, die ausschließlich auf Deutsch gespielt haben. Die deutsche Sprache hat das Kulturleben geprägt und es gibt unzählige historische Dokumente, die bis heute nicht gesichtet sind. Grund dafür ist das plötzliche Verbot der deutschen Sprache 1937 in Brasilien im Rahmen einer Nationalisierungspolitik, die auch andere Fremdsprachen genauso stark betraf. Die Menschen wurden daran gehindert, ihre Muttersprache zu sprechen, Dokumente in deutscher Sprache aus dem Alltag verbannt und vielfach vernichtet.
Wie muss man sich dieses einschneidende Verbot vorstellen?
Das war so, als wolle man in Deutschland die türkische Sprache von heute auf morgen verbieten – unvorstellbar eigentlich. Als Brasilien 1942 in den Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland eintrat, verschärften sich diese Maßnahmen, wobei das alltägliche Leben der deutschsprachigen Bürger im Brasilien der damaligen Zeit gar nichts mit der braunen Pest zu tun hatte. Es gibt Millionen von Dokumenten, die nicht erfasst, digitalisiert und katalogisiert worden sind, die aber entscheidend sind für das Verständnis der Entstehung der brasilianischen Gesellschaft von heute. Diese Arbeit geschieht jetzt gemeinsam mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach, der Universität Köln und verschiedenen Partnern in Brasilien in einem langfristig angelegten Projekt mit dem Titel: „archiv.br – Brasilianische Dokumente in deutscher Sprache“. Die 70 Jahre lang in der Interpretation unserer Geschichtsschreibung unsichtbar gebliebenen Dokumente können allmählich wieder ans Licht kommen.
Der Preis beinhaltet einen einmonatigen Forschungsaufenthalt in Deutschland – was werden Sie tun?
Meine zwei längeren Aufenthalte in Deutschland – etwa mit Stipendien des DAAD und der Alexander von Humboldt-Stiftung – waren entscheidend und prägend für mich. Damals sind nachhaltige Kooperationspartnerschaften entstanden und meine Präsenz an der Universität Tübingen hat es mir auch ermöglicht, die deutsche Dimension der brasilianischen Geschichte in Deutschland besser bekannt zu machen. Derzeit arbeite ich eng mit dem Potsdamer Romanisten Professor Otmar Ette zusammen und befasse mich mit neuen Fragestellungen und Methoden, die sich für unsere literaturwissenschaftlichen Projekte im Rahmen der digitalen Welt ergeben. Den Forschungsaufenthalt, den mir der Preis ermöglicht, möchte ich bei Professor Gerhard Lauer am Göttingen Centre for Digital Humanities (GCDH) verbringen und die Zusammenarbeit auf diesem Feld langfristig intensivieren.
Interview: Bettina Mittelstraß (21. August 2015)
Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preis und -Förderpreis
Preisverleihung in Schanghai
Mit dem Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preis und -Förderpreis zeichnet der DAAD Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Ausland aus, die sich neben ihrer fachlichen Leistung in besonderer Weise für die internationale Zusammenarbeit in den Fachbereichen Germanistik und Deutsch als Fremdsprache engagieren. Vergabejury ist der Beirat Germanistik des DAAD, der den DAAD in allen Belangen der Förderung von Germanistik und Deutsch an Hochschulen berät. Die Preise werden mit Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziert.
Neben Professor Paulo Astor Soethe wird Dr. James Meja L. Ikobwa, Dozent der Deutschsektion an der University of Nairobi ausgezeichnet: Er erhält den Jacob- und Wilhelm-Grimm-Förderpreis. Der Nachwuchswissenschaftler hat sich durch seine akademischen Leistungen und sein Engagement für deutsche Sprache und Germanistik in Kenia bereits bemerkenswerte Verdienste erworben. Mit seiner Promotion „Gedächtnis und Genozid im zeitgenössischen historischen Afrikaroman“ hat der DAAD-Alumnus ein Thema bearbeitet, das gerade für den kulturellen und kulturwissenschaftlichen Austausch zwischen Afrika und Europa von besonderer Bedeutung ist. Nicht nur als regionaler Koordinator des GANAA-Alumnivereins, sondern auch als Mitorganisator der ersten regionalen Germanistentagung Ostafrikas im Mai 2013 hat Ikobwa zur überregionalen Vernetzung einer jungen Generation von Germanisten in einer Region beigetragen, in der die Zukunft der Germanistik maßgeblich von hervorragend ausgebildeten Nachwuchskräften abhängt.
Die Preisverleihung findet am 25. August im Rahmen des Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik an der Tongji Universität in Schanghai statt. Der Grimm-Preis wird durch die Präsidentin des DAAD, Professor Margret Wintermantel, überreicht. Neben ihr wird der stellvertretende Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland, Herr Jörn Beißert, die Gäste begrüßen. Professor Helmut Schwarz, der Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung, wird eine Gratulationsadresse an den Preisträger richten. Die Laudatio auf Professor Paulo Soethe wird Professor Wilhelm Voßkamp, Universität zu Köln, halten.