Deutsch-polnische Beziehungen: „Europa war für uns immer zentraler Bezugspunkt – und bleibt es auch“

Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz: "Was wäre denn die Alternative zum vereinten Europa?"

Professor Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des DAAD-geförderten Willy Brandt Zentrums für Deutschland- und Europastudien in Breslau (polnisch: Wrocław), ist einer der renommiertesten Kenner der deutsch-polnischen Beziehungen. Im Interview spricht er über 25 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag, den politischen Wandel in Polen und über Breslau, Europas Kulturhauptstadt 2016.

Herr Professor Ruchniewicz, Polen und Deutschland können in diesem Jahr 25 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag feiern. Sind sich beide Länder in dieser Zeit auch näher gekommen?

Krzysztof Ruchniewicz: Auf jeden Fall. Es gibt unzählige Kontakte, vom akademischen Austausch über Städtepartnerschaften bis zu zahlreichen weiteren gesellschaftlichen Bereichen. Nach wie vor sind die Beziehungen aber auch stark von der Politik abhängig. Ich spüre derzeit nicht, dass dieses Jubiläum für die aktuelle polnische Regierung von großer Bedeutung ist. Dabei kann gerade dieses Jubiläum zum Anlass genommen werden, intensiv über unsere Nachbarschaft nachzudenken. Jeder Rückblick ist eine Chance, nicht nur darauf zu schauen, was bisher geleistet worden ist, sondern auch über die Dinge nachzudenken, die nicht so gelungen sind, die Korrekturen bedürfen. Es ist eine Chance, die wir nicht ungenutzt lassen sollten.

Von einer Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen würde auch Europa profitieren. Aktuell sprechen viele angesichts der Flüchtlingskrise von einem Graben, der die osteuropäischen Staaten unter anderem von der Haltung Deutschlands trennt. Was macht Ihnen Hoffnung auf eine Verbesserung der Beziehungen?

Ich gehöre einer Generation an, die noch bewusst den Zusammenbruch des Kommunismus erlebt hat. Heute profitieren wir von der Demokratie, von der Öffnung der Grenzen, von der Möglichkeit, international aktiv zu werden. 2017 kann das Willy Brandt Zentrum bereits sein 15-jähriges Jubiläum feiern. Wir sind Teil des weltweiten Netzwerks der DAAD-geförderten Zentren für Deutschland- und Europastudien. Europa war für uns immer zentraler Bezugspunkt – und bleibt es auch. Natürlich sind uns auch die vergangenen und aktuellen Krisen Europas bewusst, aber wir haben immer wieder gesehen, dass in diesen Krisen Kraft gefunden werden kann und somit etwas Neues entsteht. Das ist auch jetzt die Hoffnung. Was wäre denn die Alternative zum vereinten Europa? Das Leben in Grenzen. Stattdessen sollten wir aber Werte wie Solidarität, Toleranz und auch den Kampf gegen den Nationalismus fördern – all das, was in der Vergangenheit Frieden geschaffen hat und konstitutiv für Europa ist.

Wie spiegelt sich das aktuell in der konkreten Arbeit des Willy Brandt Zentrums?

Wir sind gerade dabei, einen Studiengang zu Fragen der europäischen Einigung aufzubauen. Wir möchten mit einem interdisziplinären Zugang noch stärker aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und reflektieren, was Europa heute ausmacht. Besonders wichtig ist für uns in diesem Kontext auch das nach wie vor stark nachgefragte deutsch-polnische Promotionskolleg „Polen und Deutschland im modernen Europa“, das wir zusammen mit der Ludwig-Maximilians-Universität München betreiben. Auf deutscher wie polnischer Seite wollen zahlreiche Doktoranden die Fragen nach der gemeinsamen europäischen Zukunft Deutschlands und Polens intensiv bearbeiten. Auch mit verschiedenen Publikationsreihen treiben wir die Beschäftigung mit Europa voran, etwa durch die im Nomos Verlag erscheinenden „German and European Studies“ oder das „Annual of European and Global Studies“ bei Edinburgh University Press.

Sie nehmen gezielt auch eine globale Perspektive auf Europa ein?

Ja, und dafür beziehen wir auch unsere Partner im Netzwerk der DAAD-geförderten Zentren für Deutschland- und Europastudien mit ein. Es ist wichtig zu beobachten, wie europäische Probleme von außen gesehen werden. Die deutsch-polnischen Beziehungen bleiben für uns natürlich von zentraler Bedeutung. So haben wir zum Beispiel im Bereich Öffentlichkeitsarbeit in den letzten Jahren das von polnischen Profijournalisten betreute Internetportal niemcy-online.pl entwickelt, mit dem wir täglich eine alternative Informationsquelle zu Deutschland bieten.

In Deutschland wird aktuell besonders aufmerksam nach Polen geblickt – etwa auf die Großdemonstrationen gegen die vielfach als Entmachtung gedeutete Reform des Verfassungsgerichts durch die neue nationalkonservative Regierung. Das neue Mediengesetz wird ebenfalls sehr kritisch gesehen. Beeinflussen die jüngsten Entwicklungen auch die Arbeit des Willy Brandt Zentrums?

Eins vorweg: Die Regierungen kommen und gehen, unsere unabhängige wissenschaftliche Arbeit aber bleibt. Doch natürlich ist es wichtig, dass wir in den drei Schwerpunkten des Zentrums – Lehre, Forschung und Öffentlichkeitsarbeit – zu einer Versachlichung der Diskussionen beitragen. Wir können nur Impulse geben, etwa zur Bedeutung des Austauschs und der Nachbarschaft in Europa. Das kann ein dringend notwendiges Korrektiv sein. Übrigens: Auch uns Lehrenden helfen die Diskussionen mit unseren Studierenden und Doktoranden dabei, Nachbarschaft in Europa immer wieder neu zu lesen.

Ihr Standort ist dabei Breslau, das eine sehr wechselvolle Geschichte hat und aktuell Europäische Kulturhauptstadt 2016 ist.

Die wechselvolle Geschichte Breslaus ist genau der Grund, warum das Willy Brandt Zentrum hier gegründet wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zu einem völligen Austausch der Bevölkerung. Noch heute beschäftigt uns die Frage: Ist es nun eine polnische Stadt oder doch auch eine deutsche Stadt? Wir sind in Breslau ständig konfrontiert mit unterschiedlichen Kulturen, Nationen und Religionen, die in dieser Stadt gelebt haben und leben. Diese Vielfalt macht die Stadt spannend, interessant und anregend. Es ist eine Stadt, die wir neu gelesen haben und jetzt so schätzen, wie sie ist. Das gilt nicht nur für die Stadtväter, sondern für die ganze Bevölkerung, die sich einfach versteht. Diese Verständigung in der Vielfalt finde ich wirklich ganz toll.

Interview: Johannes Göbel (15. März 2016)