Europa wissenschaftlich erwandern
Bernhard Begemann
Neue Blickwinkel: Auch in der deutschen Botschaft in Athen diskutierten die Teilnehmer des "Kolleg Europa"
Berlin - Amsterdam - Breslau - Athen: Das „Kolleg Europa“ führte 60 fortgeschrittene Studierende aus verschiedenen Ländern über eineinhalb Jahre zusammen, um über Europa nachzudenken. 2014 startete die Kooperation von DAAD, Studienstiftung des deutschen Volkes und Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. mit dem Ziel, internationalen Studierenden eine Plattform für die Auseinandersetzung mit verschiedenen Fragestellungen zu bieten. In verschiedenen Präsenzphasen in vier europäischen Städten, begleitet von herausragenden Dozenten, tauschten sich die Nachwuchswissenschaftler zum Oberthema „Europa solidarisch denken“ aus. Nach den Stationen Berlin, Amsterdam und Breslau endete das erste „Kolleg Europa“ nun erfolgreich in Athen.
„Die Idee des Kollegs ist im besten Sinne europäisch“, sagt Alix Schmidt. Deshalb hatte sich die junge Französin, die an der Sciences Po Lille Europapolitik studierte, 2014 für das studienbegleitende Angebot beim DAAD beworben – mit Erfolg. Kurz vor ihrer Masterarbeit zum Thema europäische Migration suchte sie eine Möglichkeit, ihren Horizont zu erweitern. „Die Erfahrung europäischer Realitäten über die Reisen in verschiedene Städte, die unterschiedlichen Herkünfte der anderen Teilnehmer und die Diskussionen im Kolleg haben mein Studium auf eine neue Basis gestellt – das hatte mir als französischer Studentin gefehlt.“
„Eine Art lokale Ethnografie“
Das übergeordnete Thema der ersten Kollegphase von September 2014 bis März 2016 lautete „Europa solidarisch denken“. Zu Beginn stand die europäische Wirtschafts- und Schuldenkrise im Fokus. Doch in Athen, wo sich das Kolleg nach fast zwei Jahren zum vierten Mal zu einer fünftägigen, vorläufigen Abschlussveranstaltung wieder sah, stellte sich dann die Frage nach europäischer Solidarität inzwischen ganz anders. Die Teilnehmer erlebten auf besondere Weise die Flüchtlingskrise. In kleinen Gruppen besuchten sie das Zeltlager für Flüchtlinge in der Hafenstadt Piräus, versuchten dort, mit den Menschen in Kontakt zu kommen, rasch vor Ort Informationen zu sammeln und sich ein differenziertes Bild der Lage zu machen. „Wir haben eine Art lokale Ethnografie betrieben“, sagt Professor Michael Werner, Leiter des Pariser Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA), welches Teil des herausragenden Netzwerks der DAAD-geförderten Zentren für Deutschland- und Europastudien ist. „Diese wissenschaftliche Herangehensweise hat sich im Kolleg Europa etabliert und in Athen erneut bestätigt.“
Wie erzählen wir Europa?
Im Kolleg Europa leitete Michael Werner die Arbeitsgruppe, die sich mit europäischen Kulturbeziehungen beschäftigte. Weitere vier Arbeitsgruppen thematisierten ein nachhaltiges wirtschaftliches Miteinander in Europa, „Utopien zur Gestaltung des europäischen Raumes“, die Rolle von gestaltenden Akteuren wie Zivilgesellschaften und Parteien und die Frage „Wie sozial ist Europa?“ Michael Werners Gruppe orientierte sich an der Leitfrage „Wie erzählen wir Europa?“ und schwärmte in Berlin, Amsterdam und Breslau aus, um zum Beispiel in Museen und Ausstellungen oder an Denkmälern Interviews zu führen und ein konkreteres Bild vom Kulturtransfer und den kulturellen Verflechtungen in Europa zu erhalten.
„Eines unserer wichtigsten Ergebnisse war, dass man Europa als Ganzes letztlich nur über seine verschiedenen Teile verstehen und fragmentarisch erzählen kann“, sagt Michael Werner – und das entsprach dem Ansatz des Kollegs als multiperspektivisch zusammengesetztem Wanderkolleg. „Man kann ein vielseitiges, aufmerksames und reflexives Verhältnis zu Europa bekommen, indem man von einem europäischen Ort zum anderen wandert und sich damit auseinandersetzt, wie die Menschen an Ort und Stelle Europa erleben, mit ihrer Geschichte umgehen und vieles mehr.“
Wertvolle Entwicklungen im Wanderkolleg
Ein besonderes Erlebnis war für die 60 Studierenden die Wertschätzung, die sie bei ihrem Besuch in der deutschen Botschaft in Athen erlebten, wo sich der stellvertretende Botschafter und der Leiter der Kulturabteilung viel Zeit für die Diskussion mit den jungen Europäern nahmen. „Das Highlight des Kolleg Europa waren die Teilnehmer selbst und die Initiativen, die sie ergriffen haben“, sagt Christian Strowa, Teamleiter für Germanistikprojekte und die Zentren für Deutschland- und Europastudien beim DAAD. „Mit enormer wissenschaftlicher Neugierde und hohem persönlichen Engagement investierten sie neben ihren eigentlichen Studienanforderungen viel zusätzliche Arbeit in die europäischen Fragestellungen.“ Auch Michael Werner war beeindruckt von der Entwicklung der jungen Geförderten, die in Athen abschließend eine enorme Vielfalt an Arbeiten präsentierten – neben wissenschaftlichen Arbeiten auch Audio- und Fotoprotokolle, Kurzgeschichten oder Internetblogs. „Über die eineinhalb Jahre hinweg hat zudem ein sichtbarer Reifeprozess eingesetzt und viele haben währenddessen ihre Master- oder Doktorarbeiten abgeschlossen.“
Auch Alix Schmidt hat ihren Doppelmaster „Europe and the World“ an ihrer französischen Hochschule und der Aston University in Birmingham in dieser Zeit beendet – inspiriert vom Kolleg Europa. Jetzt will sie entweder im französischen Innenministerium oder an europäischen Institutionen in den zuständigen Stellen für Migration arbeiten. „Ich glaube wir als Generation können etwas für Europa schaffen, wir können etwas bewirken und ändern, damit wir nicht Gefahr laufen, im Rückzug auf nationale Interessen stecken zu bleiben“, betont die junge Französin, die mehr als eine Identität hat. „Ich bin zugleich Europäerin und diese beiden Identitäten gehören zusammen – das ist die Welt von heute, das passt zusammen, ändert sich nicht mehr und damit müssen wir in Zukunft arbeiten.“ An dieser Zukunft arbeitet auch weiterhin das Kolleg Europa: Im Herbst 2016 wird es mit dem neuen Oberthema „Europa offen denken“ fortgesetzt; erste Stipendiaten wurden bereits ausgewählt.
Bettina Mittelstraß (18. April 2016)