Zentren für Deutschland- und Europastudien: Deutsch-Polnischer Austausch für Europa

Societäts-Medien/Jan Greune

"Debatten versachlichen und entemotionalisieren": Zentrumsdirektor Krzysztof Ruchniewicz im Gespräch

Das Willy Brandt Zentrum (WBZ) für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau (polnisch: Wrocław) ist ein herausragender wissenschaftlicher Ort des deutsch-polnischen Austauschs. Die Beziehungen beider Länder werden am WBZ mit einer außergewöhnlichen Perspektivenvielfalt erforscht und mit der Geschichte, Gegenwart und Zukunft Europas verknüpft.

2016 ist ein wichtiges Jahr für die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen: Vor 25 Jahren wurde der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag unterzeichnet. Das Dokument gilt als Basis der guten Beziehungen und als Ausgangspunkt für viele Kooperationen zwischen den beiden Staaten entlang der Oder. Auch das Willy Brandt Zentrum (WBZ) für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau (polnisch: Wrocław) würdigt die Ratifizierung im Jahr 1991. Eine Open-Air-Ausstellung ist dort bis Mitte September zu besichtigen – und das aus guten Gründen. „Die Gründung des Willy Brandt Zentrums war eine der Folgen des deutsch-polnischen Annäherungsprozesses“, sagt Professor Krzysztof Ruchniewicz, Gründungsdirektor des Willy Brandt Zentrums.

Im Jahr 2002 wurde das WBZ gegründet – mit dem Auftrag, durch exzellente Forschung und Lehre die wissenschaftlichen Grundlagen für ein besseres Verständnis zwischen Polen und Deutschland zu schaffen. Die Themen sind weit gefasst: Sie reichen von der Historie und den Wirtschaftswissenschaften über die Gesellschaft bis hin zu Kultur und Literatur beider Länder. Zugeordnet sind den Inhalten die Lehrstühle Neueste Geschichte, Politikwissenschaften, Germanistische Literaturwissenschaft sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die eng zusammenarbeiten. „Das WBZ versteht sich als interdisziplinäre Forschungseinrichtung, an der Politologen, Historiker, Soziologen, Literatur- und Kulturwissenschaftler aktiv sind“, definiert Krzysztof Ruchniewicz, zugleich Leiter des Lehrstuhls für Geschichte, das Profil des Zentrums. Diese Vielfalt mündet nicht nur in der Lehre (etwa ab dem Wintersemester 2016/17 im neuen Masterkurs „Interdisziplinäre Europastudien“), sondern auch in spannenden Forschungsprojekten. Nur ein Beispiel: Das WBZ wird 2017 ein Lexikon der Kultur der deutschsprachigen Länder nach 1945 herausgeben. „Das ist eine einmalige Sache, weil daran alle Zentrumswissenschaftler mitgeschrieben haben“, freut sich Ruchniewicz.

Gefragte Expertise

Die Interdisziplinarität ist eine der großen Stärken des WBZ. Das vom DAAD geförderte Zentrum lässt den Wissenschaftlern Freiheiten, welche Akzente sie in der Forschung setzen möchten. Nationalismus, Bürgerschaft, Europäische Identität oder die europäische Außenpolitik sind die Themen, mit denen sich Professor Ireneusz Karolewski, Leiter des Lehrstuhls für Politikwissenschaften, befasst. „Ich kann mich hier mehreren Forschungsgebieten widmen, die für mich gleichermaßen interessant sind“, sagt Karolewski, der sich an der Universität Potsdam habilitierte. Diese Gebiete ergänzten sich theoretisch und konzeptuell bestens. So sei zum Beispiel Außenpolitik immer wieder nicht nur von unterschiedlichen nationalen Interessen, sondern mitunter stark von Nationalismus geprägt, hinzu kämen Einflüsse von Soziologie, Geschichte und auch Psychologie.

25 Jahre DAAD-geförderte Zentren für Deutschland- und Europastudien: das WBZ Breslau

WBZ

Auch ein Ort des interdisziplinären Austauschs: Blick auf das WBZ

„Der Facettenreichtum des WBZ passt sehr gut zu meinen persönlichen Forschungsvorlieben“, sagt Ireneusz Karolewski. Zudem ist das WBZ mit seinem Profil auf der Höhe der Zeit: „Themen wie europäische Identitätspolitik und damit etwa die Frage, wie sich Identitäten mobilisieren lassen, sind sehr aktuell, wie wir derzeit beim Brexit deutlich erleben“, erklärt der Politologe, der ein viel gefragter Ansprechpartner zu europäischen Themen ist, so auch im Fall des geplanten EU-Austritts Großbritanniens. Die Expertise der WBZ-Wissenschaftler wird weithin geschätzt: Zentrumsdirektor Krzysztof Ruchniewicz zählt zu den angesehensten Kennern der deutsch-polnischen Beziehungen und ist auch in Medien wie etwa der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ oder der Berliner „tageszeitung“ als Gastautor und Interviewpartner präsent. „Wir greifen gerne Themen auf, die in der Öffentlichkeit umstritten sind und versuchen, Debatten mit Argumenten zu versachlichen und zu entemotionalisieren“, sagt Ruchniewicz. Das gelte auch angesichts des aktuellen Streits zwischen der EU-Kommission und der nationalkonservativen polnischen Regierung über die Justizreform des Landes. Am Wert des europäischen Zusammenhalts lässt Krzysztof Ruchniewicz keinen Zweifel: „Was wäre denn die Alternative zum vereinten Europa? Das Leben in Grenzen. Stattdessen sollten wir aber Werte wie Solidarität, Toleranz und auch den Kampf gegen den Nationalismus fördern – all das, was in der Vergangenheit Frieden geschaffen hat und konstitutiv für Europa ist.“

Zahlreiche internationale Kontakte

Auch für Nachwuchswissenschaftler ist das WBZ attraktiv. Seit April 2016 forscht Dr. Alicja Sielska als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaften. Sie arbeitete zuvor mehrere Jahre lang als Wirtschaftsredakteurin für das Onlineportal niemcy-online.pl, das über deutsch-polnische Themen berichtet und vom WBZ verantwortet wird. Nun, nach Abschluss ihrer Dissertation, will sie sich ganz der Wissenschaft widmen. Für Sielska macht der internationale Charakter den Reiz des WBZ aus. „Es gibt zahlreiche Möglichkeiten mit Partnern im Ausland in Kontakt zu treten, viele internationale Wissenschaftler sind hier zu Gast“, erzählt sie. So organisiert das WBZ gemeinsam mit der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München und mit dem Interdisziplinären Zentrum für Deutschlandstudien und -forschung (CIERA) in Frankreich seit sechs Jahren eine Sommerschule zum Weimarer Dreieck, die abwechselnd von einem der Partner ausgerichtet wird.

Vom Austausch zwischen WBZ und der Münchner LMU profitiert auch Mateusz Matuszyk. Der 29-Jährige promoviert am Historischen Institut der Universität Breslau zum Thema deutsche Schlesier in der westlichen Besatzungszone und der BRD und nimmt am deutsch-polnischen Promotionskolleg „Polen und Deutschland im modernen Europa“ teil, das das WBZ und die LMU im Jahr 2011 auf die Beine stellten. „Mir bringt das Kolleg sehr viel, weil ich Forschungsergebnisse präsentieren kann und wichtiges Feedback von Kollegen und Professoren bekomme“, sagt der Doktorand. Über das Kolleg bekomme er sehr viele Informationen über Konferenzen, Debatten und Ausstellungen zu deutsch-polnischen Themen. „Für uns Nachwuchswissenschaftler ist das wichtig, da wir so Kontakte zu Menschen knüpfen können, die im Bereich der deutsch-polnischen Beziehungen engagiert sind“, sagt er.

Den wissenschaftlichen Nachwuchs im Blick

2017 wird das WBZ sein 15-jähriges Bestehen feiern. Ein Programmpunkt der Feierlichkeiten wird bereits im November 2016 eine Konferenz sein, zu der polnische Deutschlandforscher quer durch alle Disziplinen ans WBZ kommen. „Wir wollen diskutieren, wie es um die Entwicklung der Deutschlandforschung bestellt ist“, sagt Krzysztof Ruchniewicz. Doch nicht nur sie liegt dem Direktor am Herzen, sondern auch der wissenschaftliche Nachwuchs. Deshalb will der Historiker das deutsch-polnische Promotionskolleg auf eine noch festere Basis stellen und für eine dauerhafte Finanzierung sorgen: „Wir müssen auch in Zukunft Doktoranden ausbilden, die sich mit den deutsch-polnischen Themen befassen.“

Benjamin Haerdle (17. August 2016)

Weitere Informationen

Den Anstoß zur Gründung des Willy Brandt Zentrums (WBZ) für Deutschland- und Europastudien gab der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einer Rede während seines Polenbesuches im Dezember 2000. Seit seiner Gründung 2002 wird das WBZ vom DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amts gefördert. Namenspatron ist der 1992 verstorbene Willy Brandt, Bundeskanzler von 1969 bis 1974, der als Wegbereiter der Neuen Ostpolitik gilt und für seine Verdienste den Friedensnobelpreis erhielt. Das Kuratorium als höchstes Gremium des WBZ ist paritätisch mit jeweils vier Vertretern aus beiden Staaten besetzt. Es berät den Gründungsdirektor Professor Krzysztof Ruchniewicz in allen wichtigen Fragen, die das Zentrum betreffen, wie etwa Entwicklungsplan, wissenschaftliches Profil, Studienangebote und Auswahlkriterien der WBZ-Doktoranden.