Erasmus+ Jahrestagung in Bremen: Bewährtes Programm, aktueller denn je
DAAD/Martin Stöver
Teilnehmer der Erasmus+ Jahrestagung: die Zukunft Europas im Blick
Erstmals war die Universität Bremen Austragungsort der Erasmus+ Jahrestagung. In Zeiten, in denen europäischer Zusammenhalt schwindet, ist das EU-Bildungsprogramm aktueller denn je. Mehr als 300 Hochschul- und Projektkoordinatoren aller deutschen Hochschulen diskutierten die Frage, welche Rolle Erasmus+ bei der Bewältigung gesellschaftlicher und politischer Herausforderungen spielen kann.
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Hanns Sylvester: Erasmus+ als Kontrapunkt gegen die Krisen des Kontinents
„Wir leben in bewegten Zeiten“, begrüßte Dr. Hanns Sylvester, Direktor der Nationalen Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit im DAAD, die Teilnehmer der Erasmus+ Jahrestagung in seiner Eröffnungsrede. Kriegerische Auseinandersetzungen rückten immer näher, Großbritannien beschließe den Brexit, die Flüchtlingsfrage spalte Nationen und Polen habe begonnen, seine englischsprachigen Studiengänge zurückzufahren. „Viele Menschen sind europamüde. Da ist das Erasmus-Motto ,Wer sich bewegt, bewegt Europa‘ aktueller denn je“, so Sylvester, denn das Bildungsprogramm als europäische Erfolgsgeschichte wirke dem Abwenden von einer europäischen Identität entgegen und trage dazu bei, dass nicht noch mehr Mauern in den Köpfen der Menschen entstünden. Deutlicher als je zuvor gehe es nicht allein um Employability als Erasmus-Ziel, sondern auch um die sich rapide wandelnden gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen. Und genau die standen während der gesamten Jahrestagung am 29. und 30. September in der Hansestadt immer wieder im Mittelpunkt: Da war die Rede von Erasmus an Hochschulen als Kontrapunkt zur wachsenden rechten Szene in der europäischen Gesellschaft, von Erasmus als Programm, das sich gegen eine einheitliche Nationalkultur wendet und stattdessen verschiedene Identitäten nebeneinander fördert. Auch die Bedeutung des Programms als Brückenbauer zwischen Politik und Gesellschaft wurde diskutiert, ebenso sein Potenzial, Internationalisierungsstrategien der Hochschulen voranzutreiben.
Erasmus+ und Diversität
Dieses Spannungsfeld erweiterte Professor Yasemin Karakaşoğlu noch einmal mit ihrem Impulsvortrag „Internationalität und Diversität der Hochschulen – Welche Herausforderungen stellen sich für die Hochschulleitung?“. „Was haben wir eigentlich vor Erasmus gemacht?“, fragte die für Internationalität und Diversität verantwortliche Konrektorin der Universität Bremen in die Runde. Längst sei das Bildungsprogramm aus der Hochschullandschaft nicht mehr wegzudenken. Die Deutschtürkin, die 1989 für ein Semester Turkologie in Ankara studiert hat, weiß, wovon sie spricht. Das halbe Jahr habe sie sehr geprägt, aber die Organisation des Aufenthaltes, die Wohnungssuche, der Papierkrieg – lange vor der Teilnahme der Türkei am Erasmus-Programm –, das alles habe auch viel Energie gekostet. Jahre später sei sie dann als Hochschullehrende in den Erasmus-Genuss gekommen. Für die Konrektorin trägt das Bildungsprogramm entscheidend dazu bei, die hoch gesteckten Ziele der Universität Bremen in Sachen Internationalität, Mobilität und Diversität leichter zu realisieren: So wagten im Hochschuljahr 2015/2016 mehr als 400 Studierende und 60 Mitarbeiter mit Erasmus+ den Sprung ins europäische Ausland – entweder zum Studieren oder für ein Praktikum.
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Yasemin Karakaşoğlu: "Nicht nur Englisch, Französisch, Spanisch"
Umgekehrt empfing die Universität Bremen knapp 300 Studierende von ihren Erasmus-Partnerhochschulen zu einem ein- oder zweisemestrigen Studienaufenthalt. Zwölf Prozent der Regelstudierenden in Bremen kommen aus dem Ausland: „Damit sieht die Zukunft unserer Universität international aus“, betonte die Konrektorin, die auch Mitglied im Vorstand des DAAD ist. Zugleich gab sie zu bedenken: „Hochschulen dürfen sich bei ihrer Internationalisierung nicht nur auf wissenschaftlich wichtige Sprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch konzentrieren, sondern auch auf andere Sprachen, um den Austauschstudierenden den Zugang zur Kultur ihres Gastlandes zu gewährleisten. Schließlich macht die Vielfalt an Sprachen Europas Kultur aus.“ Auch müssten sich die Hochschulen fragen, inwieweit sie Diversität und Internationalität miteinander verknüpfen: „Da sehe ich noch viel Entwicklungspotenzial“, so Karakaşoğlu. Beispielsweise beim Angebot von behindertengerechtem Wohnraum, gelatinefreiem Mensaessen für Muslime und im englischsprachigen Angebot im Bachelorstudiengang. Mehr als bisher müsse der Erfolg von Erasmus+ als wichtiger Bestandteil der Diversity-Strategie nicht allein an der Quantität bemessen werden, sondern auch an der Qualität.
Fragen und Antworten
Wie sich das Erasmus+ Programm noch besser nutzen und gestalten lässt, war während der Jahrestagung Thema zahlreicher Diskussions- und Themenrunden sowie Arbeitsgruppen. Die Themen reichten zum Beispiel von der nachhaltigen Verankerung der Erasmus+ Kooperationsprojekte an den Hochschulen über Aspekte des Projekt-, Vertrags- und Finanzmanagements bis zur Frage, wie Hochschulen die internationalen Karrieren ihrer Absolventen fördern können. Auch wurde die Studie „Hochschulabsolventen mit Auslandserfahrungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt“ des DAAD und des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) mit einem eigenen Programmpunkt vorgestellt.
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Adam Tyson: "Wie erreichen wir alle jungen Menschen in der Gesellschaft?"
Konkrete Fragen an Erasmus+ stellt die Halbzeit-Evaluierung, die die Europäische Kommission dem Europäischen Parlament Ende 2017 als Bericht vorlegen muss. Ein umfangreiches Vorhaben, das 33 Länder einbezieht. So werden in den kommenden Wochen und Monaten zahlreiche Erasmus-Akteure – darunter viele der Bremer Gäste – befragt. Die Halbzeit-Evaluierung und die Zukunft des Programms standen dann auch im Fokus in einer der fünf Themenrunden, die Hanns Sylvester und Adam Tyson, Leiter der Abteilung für Hochschulbildung und Erasmus+ in der Generaldirektion Bildung und Kultur der Europäischen Kommission, gemeinsam moderierten: Während sich finanzielle Mittel und Stipendienzahlen noch relativ einfach berechnen lassen, ist die Wirkung in Zahlen ansonsten nur schwer darzustellen: „Wie will man die Wirkung von Bildung messen?“ brachte es Hanns Sylvester auf den Punkt. Um Bildung überhaupt allen zugänglich zu machen, dürfe Erasmus+ sich nicht elitär entwickeln, warnte Adam Tyson. „Wir müssen künftig noch mehr darüber nachdenken, wie wir alle jungen Menschen in der Gesellschaft erreichen“, stellte der Brite fest. Tatsächlich spiegelt sich der soziale Mix der europäischen Gesellschaft noch nicht in Erasmus+ wider: 70 Prozent der Teilnehmer kommen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil studiert hat. Ein Missverhältnis, das behoben werden muss: „Wir müssen Mittel und Wege finden, um bildungsferne Gesellschaftsschichten besser zu erreichen“, so Tyson. Der Zugang zum Programm müsste niedrigschwelliger werden, Formblätter wie zu den Learning Agreements und entsprechende Prozesse müssten flexibler gestaltet werden.
Vor diesem Hintergrund ist es laut Hanns Sylvester umso wichtiger, dass die Erasmus+ Hochschul- und Projektkoordinatoren die Befragungen im Rahmen der Halbzeit-Evaluierung nutzen, um die Zukunft des Programms mitzugestalten. Bereits ab 2018 werden die inhaltlichen Weichen für die neue Programmgeneration ab 2021 gestellt. „Nutzen Sie die Chance“, ermutigte Sylvester seine Zuhörer, „zeigen Sie, wie leistungsfähig Erasmus ist und dass das Bildungsprogramm in der Lage ist, gesellschaftliche Veränderungen zu gestalten.“
Katja Lüers (7. Oktober 2016)