Yoko Tawada: Im Bann der Sprache
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Yoko Tawada: "Zwischen zwei Sprachen habe ich nie eine Grenze gesehen"
„Sie hebelt alle Gesetze der Logik und der Schwerkraft aus“: Ein Porträt von Yoko Tawada, Kleist-Preisträgerin 2016 – und ehemalige Inhaberin des DAAD Distinguished Chair in Contemporary Poetics an der New York University
Am 20. November wurde Yoko Tawada im Berliner Ensemble mit dem angesehenen Kleist-Preis ausgezeichnet. In Ihrer Dankesrede erklärte sie: „Heute wollte ich eigentlich über Eis und Schnee sprechen, weil dem Wort ‚Preis‘ das Wort ‚Eis‘ innewohnt und weil ich am liebsten im Winter schreibe. Der lange, kalte, dunkle Winter ist für mich der größte Schatz Nordeuropas. Was der Winter mit sich bringt, sei es Schnee, Eis oder Kälte, sind keine Hindernisse, sondern die Mitgestalter vieler Zivilisationsformen.“ Die Theaterbühne war mit sechs großen Eisquadern bestückt, die im Laufe der Veranstaltung langsam dahinschmolzen, sich mehr und mehr in Wasser auflösten, bis sie zusammenkrachten. Das ist ganz nach dem Geschmack der auf Deutsch schreibenden Japanerin Yoko Tawada. Verwandlungen, fließende Übergänge, wechselnde Aggregatzustände wecken ihre Neugier und fordern ihre Phantasie heraus.
Sie spricht in „Überseezungen“
Bereits mit neunzehn Jahren unternahm die 1960 in Tokio geborene Autorin ihre erste Reise in den Norden Europas, nach Moskau. Zur Annäherung hatte sie die Transsibirische Eisenbahn gewählt. Es sollte langsam gehen, sie brauchte Zeit, um den anderen Kontinent wahrzunehmen und zu entdecken. „Wo Europa anfängt“, Prosa und Gedichte, war eine ihrer ersten Veröffentlichungen. Ab 1982 lebte sie in Hamburg, studierte Neuere deutsche Literatur. Fünf Jahre nach ihrer Ankunft veröffentlichte sie ihren ersten zweisprachigen Gedicht- und Prosaband „Nur da wo du bist da ist nichts“. Yoko Tawada beschloss, sich ganz dem Schreiben hinzugeben. Dankbar ist sie ihren Eltern, die sie nie gewarnt oder ermahnt hatten, Schreiben sei eine brotlose Kunst. Sie ließen die Tochter gewähren. Die ist besessen von Buchstaben und Worten, die Magie der Sprache zieht sie unaufhaltsam in Bann. Die fremde Sprache, das Deutsche, machte sie mutig, auf wort-archäologische Reisen zu gehen. Dabei blieb und bleibt die Autorin immer auch der japanischen Sprache treu, veröffentlicht regelmäßig Prosa und Gedichte in Japan. Dort hat sie inzwischen alle wichtigen Literaturpreise erhalten. Allerdings übersetzt Yoko Tawada nie ihre eigenen Werke von einer Sprache in die andere, das überlässt sie professionellen Übersetzern. Sie hat ihre eigene Auffassung von Übersetzungen, die bei ihr zu „Überseezungen“ mutieren und sich auflösen in einem Zungentanz von euro-asiatischen, südafrikanischen und nordamerikanischen Zungen.
Grenzen mag die Schriftstellerin nicht, „beim Wort ‚Grenze‘ zucke ich oft zusammen“. Es erinnert sie an bewaffnete Soldaten. Und Sprachpolizisten, die Sprachübertritte verfolgen, mag sie auch nicht. Ihr Ideal ist das Polyglotte. „Zwischen zwei Sprachen habe ich nie eine Grenze gesehen; jede Sprache bildet einen Zwischenraum, und der Raum zwischen zwei Sprachen ist kein Zwischenraum, sondern der eigentliche Raum, in dem die Literatur geschrieben wird.“ Ihr Schreiben ist ein Seiltanz zwischen zwei Kulturen, sie liebt die Artistik, den kunstvollen Umgang mit Worten, die sich zerlegen und neu zusammensetzen, den Sinn verändern und sich dabei manchmal auf den Kopf stellen.
Keine Grenzen, jenseits der Schwerkraft
2006 zog es Yoko Tawada von der Elbe an die Spree nach Berlin. Dort ist sie heimisch geworden und hat inzwischen in vielen „Zivilisationsformen“ die Literatur erweitert durch Musik, Theater, Film. Ihr schwebt ein Gesamtkunstwerk vor mit fließenden Übergängen in alle Richtungen. Als Ulrike Ottinger 2011 in Japan den Film „Unter Schnee“ drehte, war Yoko Tawada nicht nur ihre Beraterin, sondern sie spielte selbst mit als eine von drei blinden Wandermusikantinnen, die durch das Schneegestöber stolpern. Drei Jahre später erschienen Tawadas „Etüden im Schnee“. Darin erzählt sie die Geschichte von drei Bärengenerationen, gelangte mit ihr von Moskau über Berlin, nach Kanada, zurück nach Ostberlin und schließlich in den Westberliner Zoo, wo der Publikumsliebling Knut die Besucher begeisterte. Eine Geschichte voller Kälte und Schnee, aber ohne Grenzen.
Zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse gab es zwei Neuerscheinungen der Autorin: „Akzentfrei“ ist eine Sammlung von munter assoziierenden Essays; mit „Balkonplatz für flüchtige Abende“ legt sie einen „Roman“ vor, in dem die Zeilen gesetzt sind wie in einem endlosen Prosagedicht. Metamorphosen, Verwandlungen führen im neuen Roman zu überraschenden Sprüngen. Die Ich-Erzählerin kann einen Raum verlassen und landet mit dem nächsten Schritt im Amsterdamer Rijksmuseum. Und wieder einen Schritt weiter ist sie in Nepal und in Tibet. Nichts hat einen festen Platz. Auch die Loreley hat ihren Stammplatz am Rhein verlassen und schwebt über der Elbe. Mit luftiger Leichtigkeit hebelt die Autorin alle Gesetze der Logik und der Schwerkraft aus. Wenn sie etwas nicht interessiert, dann ist es Folgerichtigkeit.
Einladungen nach New York und Oxford
Im Frühjahr 2015 bekleidete Yoko Tawada den DAAD Distinguished Chair in Contemporary Poetics an der New York University. Ihr Vorlesungs- und Seminarthema: „Was denken Tiere“. Als Vorlage wählte die Autorin Texte aus: E.T.A. Hoffmanns „Lebens-Ansichten des Katers Murr“, Heinrich Heines „Atta Troll“, Franz Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ und die eigenen „Etüden im Schnee“. Über diese Erfahrung schreibt sie: „Mich interessiert die Beziehung zwischen Menschen und Tier. Es gehört zum Menschenrecht, ein Tier zu sein. In den USA gibt es schon ‚animal studies‘. Das Seminar hat mir große Freude gemacht.“ Auch traf ihre Lesung im Deutschen Haus an der New York University auf ein aufgeschlossenes, neugieriges Publikum. Für den Februar 2017 ist Yoko Tawada wiederum vom DAAD eingeladen worden: In Oxford wird sie für zwei Wochen Workshops mit Studierenden und Lesungen halten.
Lerke von Saalfeld (23. November 2016)