daadgalerie: neue Räume, neue Möglichkeiten
Minouk Lim, Video-Still "New Town Ghost"
Gegen Gentrifizierung: Szene aus Minouk Lims Arbeit "New Town Ghost GAGA HOHO"
In Berlin steht sie schon seit Langem für kulturelle Weltoffenheit und künstlerische Kreativität: die daadgalerie des Berliner Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD). Mit prominenten Gästen und dem Auftakt eines vielschichtigen Programms wurde sie nach ihrem Umzug in die Oranienstraße nun neu eröffnet.
Eine Szene zwischen Abbruch und Aufbruch: Die südkoreanische Künstlerin Minouk Lim bahnt sich eine Gasse durch den überfüllten Saal. Auf dem Rücken trägt sie eine schwarze Tür aus Schaumstoff. Zuvor hat sie Natürliches aus ihrer Heimat, wie Dornenzweige oder getrocknete Algen, und Künstliches, etwa Autoschrott, zu einer Installation arrangiert. Dann schenkt sie Flüssigkeiten aus und stimmt Beschwörungsformeln an: Diese künstlerisch stilisierten Riten ihrer Performance zur Ausstellung „New Town Ghost GAGA HOHO“ sollen die Hausgeister günstig stimmen.
Das kann die daadgalerie zur Eröffnung ihres neuen Domizils gut gebrauchen. Mit einer Videoprojektion stellt Lim drastisch klar, welche Gefahren gebannt werden sollen: Durch Seoul kurvt ein Lieferwagen mit zwei Musikern auf der Ladefläche; zum Schlagzeugtakt protestiert eine Sängerin lautstark gegen teure Büropaläste, die ein altes Viertel erobern – solche Gentrifizierung durchlaufen auch viele Berliner Kieze.
Aber bislang nicht Berlin-Kreuzberg: Investoren halten sich noch zurück; am westlichen Ende der Oranienstraße stimmt die soziale Mischung. Kleine Läden und Traditionslokale prägen das Bild; an der Ecke betreibt Kultur-Theoretiker Bazon Brock seine „Denkerei“. Dazwischen residiert nun die daadgalerie in den beiden unteren Etagen eines fünfstöckigen Jugendstil-Hauses von 1914. Sein Architekt Oskar Kaufmann baute auch drei Theater in Berlin – darunter die monumentale Volksbühne.
Kreative Denkprozesse
Das neu gestaltete Erdgeschoss in strahlendem Weiß mit durchgängiger Fensterfront bietet Passanten Einblicke in die dortigen Ausstellungen. Im ersten Stock sollen künftig Lesungen, Gesprächsveranstaltungen, Performances und Konzerte stattfinden. „Wir haben nach einem Ort gesucht, an dem die vier Sparten Literatur, Film, Musik und Bildende Kunst zugleich präsent sind und unsere jährlich 18 Gäste ihre Arbeiten vorstellen können“, erklärt Katharina Narbutovič, Leiterin des Berliner Künstlerprogramms (BKP) des DAAD: „Um deutlich zu machen, welchen künstlerischen Input und wie viele Denkanstöße das BKP in die Stadt hineinträgt.“
Marie Losier, Film-Still "L'oiseau de la nuit"
Auch Marie Losiers Film "L'oiseau de la nuit" wird im Rahmen des Eröffnungsprogramms gezeigt
Dazu wurden seit 1963 mehr als 1.000 ausländische Künstler für ein Jahr nach Berlin eingeladen. Ursprünglich initiiert, um das eingemauerte Westberlin vor kultureller Isolation zu bewahren, mietete das Berliner Künstlerprogramm des DAAD 1978 erstmals eigene Räume in der Kurfürstenstraße an: In der daadgalerie zeigten spätere Weltstars wie Damien Hirst und Ilya Kabakov ihre Arbeiten. Als um die Jahrtausendwende das kulturelle Leben in die alte Stadtmitte abwanderte, zog die daadgalerie in die Zimmerstraße nahe des Checkpoint Charlie um.
Doch Erwartungen, in der Gegend würden sich viele Kunstgalerien ansiedeln, erfüllten sich nicht. Stattdessen wurde sie zur „touristischen Durchlaufstrecke für Reisebusse und Bier-Bikes“, bedauert Katharina Narbutovič. Zudem ließ sich der große Saal nicht für mehrere Disziplinen zugleich nutzen: „Bei Lesungen und Konzerten mussten wir in Partnerinstitutionen wie das Deutsche Theater oder die Villa Elisabeth ausweichen.“
Das ändert sich in der Oranienstraße 161: Mit 500 Quadratmetern hat sich die Nutzfläche mehr als verdreifacht. Auf beiden Etagen erlauben Einbauten, künftig diverse Aktivitäten miteinander zu verzahnen. Das zeigte der Eröffnungsabend: Während das Publikum unten die Installation von Minouk Lim betrachtete, lauschte es ein Stockwerk höher der Performance „On the Condition of the Sea“ von Ivana Sajko. Zu Klängen des Komponisten Alen Sinkauz trug die kroatische Dramatikerin poetische Reflexionen über das Mittelmeer vor – da treffen Prosecco-Trinker auf Nachrichten von neuen Höchstzahlen im Mittelmeer ertrunkener Flüchtlinge und Besatzungen großer Containerschiffe, die nicht von Bord gehen dürfen.
Beide Beiträge beleuchten verschiedene Aspekte von Orten. Damit fügen sie sich nahtlos ins Themenspektrum des anschließenden, zehntägigen Eröffnungsprogramms unter dem Titel „Topophilia / Topophobia“, also etwa: die Liebe zu und die Angst vor bestimmten Räumen. Diese Leitmotive werden interdisziplinär behandelt; solch spartenübergreifendes Agieren ist derzeit in der Kunstwelt sehr aktuell.
„Große Treffsicherheit“
Für derartige Trends und ihre Akteure habe das Berliner Künstlerprogramm eine gute Spürnase, hob DAAD-Präsidentin Professor Margret Wintermantel hervor: „Sein Merkmal ist, dass es stets zu einem frühen Zeitpunkt und mit großer Treffsicherheit Künstler nach Berlin einlädt, die oftmals später weltberühmt werden – indem es sie bei einem entscheidenden Schritt ihrer künstlerischen Karriere begleitet.“
Athina Rachel Tsangari, HAOS Film, Film-Still "Chevalier"
Der für den Oscar nominierte "Chevalier" von Athina Rachel Tsangari ist ebenfalls Teil des Eröffnungsprogramms
Dafür nötige Voraussetzungen nannte Heidrun Tempel, Beauftragte der Abteilung Kultur und Kommunikation des Auswärtigen Amts: „Die Freiräume der Kultur zu schützen, zu pflegen und aus ihnen Impulse zu erhalten, ist Aufgabe der Auswärtigen Kulturpolitik. Das BKP ist ein solcher Freiraum: Jedes Jahr kommen 18 Gäste nach Berlin und halten uns mit ihrem Wirken den Spiegel der Fremdwahrnehmung vor.“
Welchen geistigen Gewinn die Hauptstadt daraus ziehe, betonte Kultur-Staatssekretär Dr. Torsten Wöhlert: Das Berliner Künstlerprogramm habe „einen enormen Anteil an der kulturellen Verdrahtung Berlins mit der Welt“. Er spreche aus eigener Erfahrung, allerdings in der Gegenrichtung: Ein DAAD-Stipendium ermöglichte ihm, Anfang der 1990er-Jahre an der US-Spitzenuniversität Johns Hopkins University zu lehren.
Vielschichtiges Eröffnungsprogramm
In Berlin steht die daadgalerie auch direkt im Anschluss an die Neueröffnung für offenen Austausch: Am Eröffnungsprogramm kann jeder bei freiem Eintritt teilhaben, wenn frühere und jetzige Gäste der Berliner Künstlerprogramms des DAAD neue Arbeiten vorstellen. So trägt etwa der russische Dichter Dmitri Golynko am Samstag sein experimentelles Langgedicht „Signs of Time“ vor. Am Mittwoch wird Athina Rachel Tsangari, Galionsfigur des „Neuen griechischen Kinos“, ihren jüngsten Film „Chevalier“ vorstellen: eine beißende Satire über Konkurrenzdenken und -kämpfe. Und am Sonntag, dem 22. Januar 2017, findet das Eröffnungsprogramm seinen Abschluss mit Yvonne Rainers Film „Journeys from Berlin“: Einerseits eine Kritik an den Konventionen des Kinos und des Experimentalfilms, präsentiert „Journeys from Berlin“ das Bild einer komplexen, in historische wie globale Auseinandersetzungen verwickelten Welt – und bietet zugleich den reflektierenden Blick auf persönliche Erfahrungen im Kontext sozialer und politischer Konflikte.
Oliver Heilwagen (13. Januar 2017)