"Die ‚Generation Erasmus‘ müsste aufstehen"
DAAD
Ulrich Grothus, stellvertretender Generalsekretär des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), wünscht sich, dass die Studierenden für ein besseres Europa eintreten.
Herr Grothus, welche Haltung haben Studierende generell gegenüber Europa?
Nach allem, was wir wissen, haben jüngere und gebildetere Menschen eine positivere Einstellung zu Europa als der Durchschnitt der Bevölkerungen. Das hat sich auch beim Referendum in Großbritannien bestätigt. Im Durchschnitt identifizieren sich heute deutsche Studierende praktisch ebenso häufig mit „Europa“ wie mit Deutschland oder ihrer Heimatstadt. Demgegenüber liegt die Identifikation mit der Europäischen Union ein Stück zurück. Ich fürchte auch, dass zu viele Studierende die Union inzwischen für selbstverständlich halten, sich nicht aktiv für den Zusammenhalt Europas einsetzen – und sich nicht an den kontroversen Debatten über ihre Zukunft beteiligen. Da würde ich mir mehr Wortmeldungen, mehr Einmischung, meinethalben auch mehr intellektuellen und intelligenten Streit wünschen.
Was ist mit den Studierenden aus Krisenländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit, wie etwa Griechenland, Spanien, Italien?
Da ist das Bild durchwachsen. Zum einen sind viele Studierende enttäuscht und frustriert über die Austeritätspolitik, die sie als von Deutschland und Brüssel aufgezwungen wahrnehmen. Sie hat zu teilweise dramatischen Einschnitten auch bei der Hochschulfinanzierung geführt. Auch für junge Wissenschaftler gibt es fast keine offenen Stellen mehr. So ist auch die früher sehr hohe Zustimmung zu Europa zum Beispiel in Italien stark zurückgegangen. Andererseits sehen viele junge Leute in der europäischen Freizügigkeit eine Chance, ihr Glück anderswo versuchen zu können – und zu müssen. In unseren eigenen Stipendienprogrammen sehen wir daher stark steigende Bewerberzahlen aus diesen Ländern. Und aus keinem Land arbeiten heute so viele Wissenschaftler an deutschen Hochschulen wie aus Italien, das vor einem Jahrzehnt noch auf Platz drei lag. Auch die Erasmus-Mobilität ist durch die Krise bisher kaum beeinträchtigt, bei Praktika gibt es sogar einen deutlichen Anstieg. Sicher rührt diese Popularität von Praktika auch daher, dass man damit die Chancen auf spätere Beschäftigung zu verbessern hofft.
Umgekehrt: Was erwarten die Studierenden von Europa?
Ich bin ja selbst schon ganz lange kein Student mehr. Soweit ich das beurteilen kann, erwarten viele Studierende stärker konturierte politische und soziale Alternativen, zwischen denen man entscheiden kann, oder sogar Visionen, für die man sich begeistern kann. Dass zwischen früheren Erzfeinden heute Frieden und sogar Freundschaft herrscht, ist eine großartige Errungenschaft, die aber für viele Jüngere inzwischen selbstverständlich scheint. Und der Europäische Hochschul- und Forschungsraum zum Beispiel tritt den Studierenden vielleicht zu sehr technokratisch mit Kreditpunktsystemen und Modulbeschreibungen entgegen und zu wenig als eine große Idee und Praxis, die Lernen und Forschen inhaltlich neu gestalten und grenzüberschreitend vorantreiben kann.
Wie helfen aus Ihrer Sicht Austauschprogramme wie Erasmus, den europäischen Gedanken bei den Studierenden zu verankern?
Sie eröffnen neue Perspektiven, nicht zuletzt auch auf das eigene Land. Und die mobilen Studierenden erfahren, was uns verbindet, knüpfen Freundschaften, finden sehr oft auch Partner fürs Leben. Aus Befragungen von Erasmus-Teilnehmern wissen wir auch, dass Auslandserfahrung die Identifikation mit Europa stärkt: Mobile Studierende sehen sich häufiger als „Europäer“ und „Unions-Bürger“ als immobile, übrigens umso stärker, je länger sie im Ausland waren und je mehr Kontakt sie im Ausland mit Einheimischen und anderen Ausländern hatten; weniger stark, wenn sie zum Beispiel mit anderen deutschen Austauschstudenten zusammenwohnten. Wir müssen auch, glaube ich, außerhalb der fachlichen Curricula in den Austauschprogrammen mehr Gelegenheiten zu Begegnung und diskursiver Auseinandersetzung schaffen.
Erwarten Sie von den europäischen Studierenden einen starken politischen Impuls pro Europa?
Jedenfalls würde ich ihn mir wünschen. In einer Situation, wo unsere Union in der Krise ist und nationalistische Impulse wieder aufbrechen, müsste die „Generation Erasmus“ aufstehen, über ihre vielen grenzüberschreitenden Kontakte und Freundschaften Zusammenhalt und europäische Öffentlichkeit herstellen und für ein besseres Europa streiten.
Quelle Erstveröffentlichung: DSW-Journal 4/2016