Vernunft und Leidenschaft: Stipendiatentreffen zum Reformationsjubiläum
DAAD/Michael Jordan
Mehr als Smalltalk: DAAD-Stipendiaten während des Treffens in Essen
An der Universität Duisburg-Essen kamen 365 internationale DAAD-Stipendiaten zusammen, um sich über den Einfluss von 500 Jahren Reformation auf Sprache, Kunst, Kultur und Gesellschaft auszutauschen. Vorträge von etablierten Wissenschaftlern ergänzten sich mit Beiträgen der Stipendiatinnen und Stipendiaten. Aber auch alltägliche Fragen des Studiums in Deutschland und Exkursionen ins Ruhrgebiet standen auf dem Programm.
Manchmal muss man nicht viele Worte machen, hat Thomas Jared Marks gelernt. Ein „Seufftzer“ reicht – und drückt mehr aus als viele Worte der deutschen Sprache. Den Seufzer, so wusste der amerikanische DAAD-Stipendiat und Musikwissenschaftler Marks in seinem mit Hörbeispielen unterlegten Vortrag zu erläutern, wertete Martin Luther sogar als legitime Anrufung Gottes, dem wortreichen Gebet durchaus gleichzusetzen.
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Gemeinsam diskutieren, ganz im Sinne Luthers: Die Stipendiaten tauschten sich offen aus
Und dennoch – keine Bange – kamen die 365 Stipendiaten an diesem Wochenende in Essen miteinander ins Gespräch. Die größten Stipendiatengruppen kamen aus den USA (31) und Brasilien (27), gefolgt vom Iran (17), Kolumbien, Russland (je 15), der Ukraine (14) und China (11). Es ging wortreich zu, vom Smalltalk über Länder- und Studiengrenzen hinweg bis hin zu Fachvorträgen und Grußworten. Und es blieb genügend Raum für Fragen, die die DAAD-Studierenden in ihrem Alltag in Deutschland bewegen. Der Stipendiat Newton Wofula Masinde aus Kenia hob zum Beispiel hervor, dass die Deutschen an der Hochschule und im Beruf geradezu erschütternd sachlich seien. Und wenn man die gleichen Menschen dann im Freundeskreis oder beim Sport treffe, seien sie völlig anders: „Für Afrikaner ist das undenkbar.“
Protestantische Nüchternheit, Luthers Leidenschaft
Nüchternheit und Emotionalität waren auch Themen des Eröffnungsvortrags von Professor Karl-Rudolf Korte, Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen und viel gefragter Experte, wenn es um Wahlen und Analysen der deutschen Innenpolitik geht. Er spannte den Bogen von Martin Luther bis in die Gegenwart. Laut Korte bevorzugen die Deutschen sach- und konsensorientierte Politik – und lassen die Emotionen lieber außen vor. Ideal habe sich das in den vergangenen Jahren in der Arbeitsteilung zwischen dem ehemaligen Bundespräsidenten Gauck und Kanzlerin Merkel gezeigt: Der eine sei fürs Sentiment, für die Leidenschaft, die andere für Politik mit Augenmaß zuständig gewesen. Überwiege in der Berliner Republik jedoch die „protestantische Nüchternheit“, so könne dies sogar gefährlich werden. Denn mangelnde Leidenschaft bedeute auch die Entfremdung vieler Menschen vom politischen Establishment – und diese Entfremdung befeuere wiederum Populismus, der sich in der Politik Bahn breche.
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Appell an engagierte Stipendiaten: Karl-Rudolf Korte (l.) neben DAAD-Präsidentin Margret Wintermantel und Ulrich Radtke, Rektor der Universität Duisburg-Essen
Es gelte, so Korte, Luther nicht nur als Vorvater der Aufklärer wahrzunehmen, der durch seine Bibelübersetzung das selbstständige Studium eines jeden frommen Bürgers möglich gemacht habe, sondern den Reformator auch als „Wutbürger“ zu sehen, der über den Konflikt und den Streit mit Leidenschaft zu neuen Erkenntnissen gekommen sei. Es sei nötig, wieder für die Demokratie zu streiten – so wie Luther für seine Positionen gefochten habe. „Luther hat schöpferische Zerstörung betrieben. Disruption im heutigen Managerdeutsch.“ Der Streit sei der Normalfall der Demokratie und Triebkraft des Wandels. Man müsse nicht rauflustig und tabubrechend unterwegs sein wie US-Präsident Donald Trump, aber es gehe um die Lust an der Veränderung. „Wer nur Wirklichkeiten beschreibt, hat nicht den Mut, etwas zu gestalten.“ Auch die Demokratie brauche Erlebnisse voller Gefühle, um gegen Widersacher verteidigt zu werden. Kortes Deutung von Luthers Wirken für die moderne Gesellschaft gipfelte in dem Aufruf an die Stipendiaten, „Missionare der Demokratie“ zu sein.
„Weltweite Verständigung“
Den Wert des Austauschs für offene Gesellschaften hob auch DAAD-Präsidentin Professor Margret Wintermantel in ihrem Grußwort an die Stipendiatinnen und Stipendiaten hervor: „Sie waren bereit in eine fremde Umgebung zu gehen, fremde Menschen, fremde Sitten kennenzulernen. Das ist wichtig für die persönliche Entwicklung, für die wissenschaftliche Ausbildung und das gegenseitige Verständnis. Wer seine Heimat verlässt und Erfahrung sammelt und andere an seinen Erfahrungen teilhaben lässt, trägt zur weltweiten Verständigung bei.“
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Margret Wintermantel: Wertschätzung der Stipendiaten und ihrer Weltoffenheit
Ganz konkrete Erfahrungen sammelten die Stipendiaten während ihres Treffens nicht nur in den Räumen der Universität Duisburg-Essen, sondern auch auf Exkursionen: Im Ruhr Museum und auf dem Gelände von Kokerei und Zeche Zollverein, mittlerweile Weltkulturerbe, lernten die Gäste die Historie des multinationalen Kulturraums Ruhrgebiet kennen. In keiner anderen Gegend Deutschlands leben so viele Nationalitäten und Religionen auf so engem Raum mit- und nebeneinander.
Das strich auch Professor Ulrich Radtke, Rektor der Universität Duisburg-Essen, heraus: Mehr als 6.000 Studierende der Universität stammen aus dem Ausland, vor allem aus Asien. 636 Partner im Erasmus+ Programm und 102 internationale Partnerschaften machen die Multinationalität der Hochschule deutlich.
Intellektuelle Brücken
Auch während des Stipendiatentreffens waren die intellektuellen Brücken weit und kühn gespannt. In ihrem bildreichen und kurzweiligen Vortrag erläuterte beispielsweise Charlotte Bull, britische DAAD-Stipendiatin an der Freien Universität Berlin, dass der Thesenanschlag Luthers an die Schlosskirche zu Wittenberg gewissermaßen nur ein altes und sehr wirkungsvolles Beispiel für die Kunstform der Urban Art ist: Von den Thesen an der Tür über die Graffiti in der Neuzeit führt die Spur einer immer umstrittenen, egalitären und wandelbaren Kunst- und Kommunikationsform.
Luther habe, so Professor Folkart Wittekind, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Evangelische Theologie der Universität Duisburg-Essen, die Trennung der Religion von anderen Feldern wie der Politik oder Ethik vorangetrieben. Religion sei nach Luthers Verständnis der bewusste Umgang des Menschen mit sich selbst. Gott richtet nicht, sondern er setzt, was Gerechtigkeit ist, und ermöglicht dem Menschen die Erkenntnis des gerechten Handelns. Und wenn der Mensch sich seiner Sache dennoch nicht sicher ist, kann er immer noch einen tief empfundenen „Seufftzer“ ausstoßen.
Stephan Hermsen (22. Juni 2017)