Indien: Das vorhandene Potenzial entfalten
DAAD/Tapan Pandit
Studienberatung: Deutschland erfreut sich bei indischen Studierenden zunehmender Beliebtheit
Das indische Hochschulsystem ist in den letzten Jahren exponentiell gewachsen – und steht vor enormen Herausforderungen. Es droht die Abwanderung junger Leute ins Ausland. Die Bereitschaft, in Bildung zu investieren, ist in der wachsenden Mittelschicht groß. So steigt angesichts fehlender Studienplätze im Inland das Interesse an einem Studium – und einer Karriere – im Ausland. Ein Beitrag von Heike Mock, Leiterin der DAAD-Außenstelle in Neu-Delhi.
Das indische Hochschulsystem ist mit 760 Universitäten und fast 40.000 Colleges sowie 33 Millionen Studierenden eines der größten der Welt. Angesichts des ehrgeizigen Ziels der Regierung, die Studierendenrate in der Gruppe der 18- bis 23-Jährigen von derzeit 23 Prozent bis 2030 auf 50 Prozent steigern zu wollen und somit breiteren Schichten den Zugang zu Hochschulbildung zu ermöglichen, müssen jedoch weiter enorme Kapazitäten aufgebaut werden. Hinzu kommt die demografische Situation mit einer noch auf Jahre wachsenden, sehr jungen Bevölkerung.
Dabei ist das Hochschulsystem in den letzten Jahren bereits exponentiell gewachsen. Seit 2006 hat sich die Zahl der Universitäten um mehr als 50 Prozent erhöht, die Zahl der Colleges beinahe verdoppelt. Doch die anvisierte Erhöhung der Studierendenrate bedeutet eine Steigerung der Gesamtzahl der Studierenden von jetzt rund 33 auf etwa 71 Millionen im Jahr 2030, und so ist mindestens eine weitere Verdoppelung der Kapazitäten notwendig, selbst wenn man die Möglichkeiten der Digitalisierung des Studiums miteinbezieht.
Regulative Auflagen
Der starke Ausbau des Hochschulsektors stellt die indische Regierung vor enorme Herausforderungen. Neben der offensichtlichen Frage der Finanzierung ist insbesondere die Qualitätssicherung der Lehre problematisch. Bereits jetzt sind im Durchschnitt 40 Prozent aller regulären Professorenstellen an den Universitäten vakant, an einzelnen Hochschulen gar bis zu 75 Prozent. Das betrifft auch die renommierten Institutionen wie die Indian Institutes of Technology (IIT) oder die großen staatlichen Universitäten. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass Indien über Jahrzehnte versäumt hat, seinen eigenen wissenschaftlichen Nachwuchs heranzubilden. Die Zahl der Promotionen lag jahrelang mit durchschnittlich 24.000 pro Jahr sogar unterhalb derer in Deutschland. Zum akuten Mangel an qualifiziertem Personal kommen administratives Versagen und regulative Auflagen, die den Hochschulen die Besetzung von Stellen erschweren.
Die Regierung versucht, mit einer Reihe von Maßnahmen gegenzusteuern. Insgesamt lässt die derzeitige indische Hochschulpolitik jedoch ein umfassendes, zielorientiertes Konzept zur Weiterentwicklung des Hochschulsektors vermissen. Gut gemeinte Initiativen verpuffen oft ohne nachhaltigen Effekt oder widersprechen sich in ihren Zielrichtungen. So wurde etwa Anfang 2017 verfügt, dass ab kommendem Studienjahr Professorinnen und Professoren nur noch eine regulierte Anzahl von Studierenden betreuen dürfen. Das hat zu einem teils drastischen Rückgang an Studienplätzen für Masterstudierende und Promovenden geführt, was nicht nur im Gegensatz zur generellen Intention steht, mehr Studienplätze zu schaffen, sondern auch zum eigentlich dringend benötigten, höheren Output an wissenschaftlichem Nachwuchs.
Einführung eines Rankings
Zu den nachhaltigeren Maßnahmen zählen die Einführung eines nationalen Rankings sowie ein geplantes Sonderprogramm, das 20 ausgewählten Hochschulen ermöglichen soll, sich mit zusätzlichen Mitteln und weitgehender Autonomie zu „Weltklasse-Universitäten“ zu entwickeln. Mangelnde Forschungsorientierung und Internationalität sind wesentliche Gründe dafür, dass es derzeit kaum eine der indischen Institutionen in die internationalen Rankings schafft.
Solche Programme erfordern jedoch neben sorgfältiger Konzeption auch große finanzielle Mittel, die dann an anderer Stelle fehlen. „Equity and Excellence“ – Gleichberechtigung und Exzellenz – ist das Motto des Bildungsministeriums. Mit dem seit Jahren stagnierenden Budget für die Hochschulbildung wird sich nicht beides umfassend verwirklichen lassen.
Großer privater Hochschulsektor
Abseits der Probleme der staatlichen Institutionen hat sich derweil ein großer privater Hochschulsektor etabliert. Ungefähr ein Drittel der Universitäten sowie über 75 Prozent der Colleges sind privat finanziert, mehr als 60 Prozent aller Studierenden sind dort eingeschrieben. Die qualitativen Unterschiede zwischen den Institutionen sind groß, das gilt auch für den staatlichen Bereich. Ohne den privaten Sektor wird jedoch der notwendige Kapazitätszuwachs im Hochschulbereich nicht zu stemmen sein, noch dazu, da Indien nicht bereit ist, seinen Markt für ausländische Anbieter zu öffnen. 2030 wird Indien vermutlich die drittgrößte Weltwirtschaft sein. Die Wachstumszahlen liegen konstant über sieben Prozent, und die Regierung versucht, mit tiefgreifenden Reformen und groß angelegten Kampagnen, das Land zu einem attraktiven Standort für ausländische Investitionen in Produktion, Dienstleistungen sowie für Forschung und Entwicklung zu verwandeln. Hierfür werden dringend gut ausgebildete Fach- und Führungskräfte gebraucht.
Zusätzlich steigt der Druck aus der Gesellschaft, die ein größeres Angebot an qualitativer Ausbildung einfordert. Wenn die Regierung dies nicht leisten kann, werden die jungen Leute ins Ausland abwandern. Die Bereitschaft, in Bildung zu investieren, ist in der wachsenden Mittelschicht groß, und so steigt angesichts fehlender Studienplätze im Inland das Interesse an einem Studium – und einer Karriere – im Ausland: Zwischen 2013 und 2015 stieg die Zahl der indischen Studierenden im Ausland um 23 Prozent.
Wenn Indien also sein zweifellos vorhandenes Potenzial entfalten will, muss es sich intensiv um seinen Hochschulsektor kümmern. Sonst läuft das Land Gefahr, seine klugen Köpfe zu verlieren und damit seine notwendige Entwicklung zu gefährden.
Heike Mock
Der Beitrag ist zuerst in der Zeitung des Deutschen Kulturrates erschienen: Politik & Kultur, Ausgabe 6/2017