Intersexualität: Auch eine Frage des Rechts
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Jens Scherpe: "Es geht um die wichtige Frage, wer das Recht haben soll, das Geschlecht eines Menschen als Statuselement festzulegen"
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten dritten Geschlecht hat für viel Aufsehen gesorgt. Deutschland muss nun bis Ende 2018 eine Neuregelung schaffen, die die positive rechtliche Anerkennung eines Geschlechts jenseits von männlich und weiblich, etwa in Pässen und Personalausweisen, ermöglicht. Dr. Jens Scherpe, der unter anderem dem DAAD-University of Cambridge Research Hub for German Studies angehört, forscht an der britischen Spitzenuniversität schon länger zu den rechtlichen Implikationen von Intergeschlechtlichkeit. Ein Interview über konkrete Konsequenzen, Toleranz – und die Chance eines historischen Durchbruchs.
Herr Dr. Scherpe, Sie forschen und publizieren unter anderem zur rechtlichen Situation von Transsexuellen, Transgender-Personen und Intersexuellen. Warum?
Jens Scherpe: Das Themengebiet Geschlecht und Recht hat mich schon länger interessiert. Außerdem habe ich in meinem Bekanntenkreis miterlebt, wie stark Personen, die nach ihrem empfundenen Geschlecht leben, die Missachtung ihrer Umgebung zu spüren bekommen haben. Man mag es kaum glauben, aber selbst in Deutschland werden immer noch Babys operiert, deren Geschlecht nicht eindeutig ist. Das ist eine Menschenrechtsverletzung, die ich nicht hinnehmen kann. Das Kind muss im Alltag ohnehin nicht zwingend eine rechtlich definierte weibliche oder männliche Rolle einnehmen. Der oder die Heranwachsende entwickelt seine sexuelle Identität oft erst nach und nach. Es ist also nicht nötig, dass der Staat gleich nach der Geburt darauf pocht, das Geschlecht festzulegen.
Wie reagieren andere Juristen auf Ihre Forschung?
Neben positiven Reaktionen gibt es auch Kollegen, die mit Unverständnis reagieren. Sie sehen das Thema als juristisches Randgebiet, was es meiner Ansicht nach aber nicht ist: Schließlich geht es um die wichtige Frage, wer das Recht haben soll, das Geschlecht eines Menschen als Statuselement festzulegen. Meiner Meinung nach sollte dem Staat diese Entscheidungsbefugnis entzogen werden. Es darf auch nicht ausschlaggebend sein, was der Arzt sagt, oder was die „Mehrheit“ der Bevölkerung hinsichtlich der geschlechtlichen Identität für „normal“ hält. Ich frage mich: Besteht überhaupt die Notwendigkeit, dass das Geschlecht eines Menschen rechtlich festgelegt wird? Wenn man diese Frage bejaht, dann muss meiner Ansicht nach jeder Mensch selbst definieren dürfen, welches Geschlecht er hat. Das ist in meinen Augen ein Menschenrecht.
Das Bundesverfassungsgericht entschied Ende 2017, dass es künftig einen dritten Geschlechtseintrag im Behördenregister geben muss. Außer M für männlich oder W für weiblich kann jetzt auch ein X im Pass stehen. Hat Sie diese Änderung des Personenstandsgesetzes überrascht?
Ja – was die Eindeutigkeit der Formulierung anbelangt. Die Richter stellen sogar infrage, ob man das Geschlecht überhaupt definieren muss. Ich begrüße grundsätzlich, dass das Bundesverfassungsgericht die binäre rechtliche Einteilung in männlich und weiblich für beendet erklärt hat. Allerdings sehe ich auch die Gefahr, dass das Urteil die Sicht zementieren könnte, Menschen jenseits der Kategorien männlich und weiblich seien „anders“ als „normal“. Aber was ist anders, was ist normal – und wer darf das definieren? Überdies gibt es laut Studien etliche Personen, die unter medizinischen Gesichtspunkten zwar als intersexuell gelten, die sich aber selbst klar als männlich oder weiblich identifizieren. Ihnen dann die Kategorie „Drittes Geschlecht“ aufzuzwingen, wäre grundfalsch. Das rechtliche Geschlecht muss eine Frage der Selbstbestimmung sein.
Dass ausgerechnet ein deutsches Gericht dieses Urteil gefällt hat, ist auch vor dem geschichtlichen Hintergrund zu sehen: Im sogenannten Dritten Reich fanden furchtbare medizinische Versuche an Menschen statt, wurden Menschen wegen ihres vermeintlichen Andersseins verächtlich gemacht und umgebracht. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir im Umgang mit dem vermeintlich Anderen viel Sensibilität entwickelt.
Sie gehören dem Management Committee des DAAD-University of Cambridge Research Hub for German Studies an. Was leistet dieses besondere Forschungszentrum?
Der DAAD hatte schon 2015 die großartige Idee, in Cambridge ein Zentrum für Deutschlandstudien einzurichten. Nach dem Brexit wird es sich als noch wertvoller erweisen, da die Forschungskooperation dann trotz der zu erwartenden Schwierigkeiten auf internationaler Ebene nahtlos fortgesetzt werden kann. Im Umfeld dieses „German Hub“ sind viele bemerkenswerte Projekte entstanden. In Cambridge habe ich auch zusammen mit Kollegen einen aus Mitteln des DAAD finanzierten Workshop zum „Legal Status of Intersex Persons“ organisiert, um die Situation in Deutschland nach Änderung des Personenstandsgesetzes mit anderen Ländern zu vergleichen. Daran nahmen Juristen, Theologen, Mediziner, Psychologen und andere Wissenschaftler aus acht Staaten teil.
Zu welchem Ergebnis kamen Sie?
Wir waren uns alle einig in dem Punkt, dass eine sexuelle Identität jenseits von M und W weder „gut“ noch „schlecht“ ist. Sie ist einfach, was sie ist. Auch haben wir festgestellt, dass es – von der Bibel über künstlerische Darstellungen in griechischen Tempeln bis hin zu wissenschaftlichen Publikationen aus unserer Zeit – viele Versuche gab und gibt, sich dieser Identität zu nähern. Darüber hinaus haben sich viele meiner Forscherkollegen gefragt, welche praktischen Folgen denn ein nicht-binäres rechtliches Geschlechtersystem hätte. Wenn jemand, der statt eines M oder eines W ein X im Pass stehen hat, jetzt in ein anderes Land einreist, wird man sich damit auch dort wohl noch stärker auseinandersetzen müssen als bisher – und das ist gut so. Für uns alle.
Interview: Josefine Janert (2. Februar 2018)