DAAD-Alumnus Ron Segal: Von Deutschland und Israel erzählen
© Pavel Bolo
Ron Segal: "Diese Geschichte neu zu erfinden, um die Erinnerung zu behalten"
Der israelische Schriftsteller Ron Segal kam für die Recherche zu seinem ersten Roman „Jeder Tag wie heute“ mit einem DAAD-Stipendium nach Berlin. Er ist geblieben − und erhielt Ende 2017 die begehrte Filmförderung des Bundes, um aus dem Roman das Drehbuch zum Animationsfilm „Adam“ zu entwickeln.
52.000 Interviews befinden sich im Visual History Archive der USC Shoah Foundation an der Freien Universität Berlin: Gespräche mit Überlebenden des Holocaust aus 33 Ländern in 28 Sprachen. Zwölf Jahre soll es dauern, bis man alle nacheinander gehört hat. Ron Segal hatte mithilfe einer DAAD-Förderung immerhin 18 Monate Zeit. „Aber ich verstehe ja auch nur Hebräisch, Englisch und Deutsch“, meint er lächelnd und erzählt, dass er für die Recherche zu seinem Debütroman in rund 1.000 Interviews hineingehört hat. „Ich suchte nach Geschichtenerzählern“, erklärt er. „Denn die fiktive Hauptfigur meines Romans ,Jeder Tag wie heute‘, Adam Schumacher, ist ein Erzähler, der den Holocaust überlebt hat und seine Geschichte aufschreiben will.“
Segals Romanfigur Adam Schumacher ist 90 Jahre alt und hat ein Problem: Seine Erinnerungen zerfallen in Stücke. Er leidet an Demenz. Gerade deshalb will der einst erfolgreiche Schriftsteller am Ende seines Lebens das Gedächtnis an Verfolgung, Überleben und die Liebe zu seiner toten Frau, die im Konzentrationslager Harfe spielte, festhalten. Doch die Lücken werden größer, und so füllt sie Adam für seine Erzählung fieberhaft mit fremden und erfundenen Erinnerungen.
Für die dritte Generation
In Adams Problem spiegelt sich nicht nur die aktuelle Situation der einstigen Opfer und Täter, sondern auch die ihrer Nachkommen in dritter Generation − zu der auch Ron Segal gehört. Seine noch lebende Großmutter flüchtete 1938 mit 16 Jahren vor der Verfolgung durch die Nazis von Berlin nach Israel, wo ihr Enkel Ron 1980 geboren wurde. Seine Urgroßmutter und der Großonkel wurden deportiert und ermordet. „Wenn nun die letzten Überlebenden sterben oder an Alzheimer leiden, was bleibt uns dann jenseits der Videoausschnitte, in denen sie ihre Erinnerungen erzählen?“, fragt der junge israelische Schriftsteller, der sich früh dagegen wehrte, alles je zum Thema Geäußerte wie ein gelehriger Schüler nur auswendig zu lernen. „Ich suchte meine eigene Erzählung der großen Katastrophe. Die Geschichte des kranken Mannes, der seine lückenhafte Erinnerung zu erzählen versucht, ist eben auch das, was wir in der dritten Generation versuchen: diese Geschichte neu zu erfinden, um die Erinnerung zu behalten.“
Vom Roman zum Drehbuch
Eigentlich wollte Ron Segal gleich das Drehbuch zu einem Animationsfilm schreiben. Er hatte an der Sam Spiegel Film and Television School in Jerusalem studiert, und das Skript zu seinem Abschlussfilm wurde damals vom Goethe-Institut ausgezeichnet. „Da wollte ich dann gleich einen langen Film machen und Adams Geschichte als Drehbuch verfassen“, berichtet er. „Aber ich beschrieb Gefühle und innere Gedanken und merkte bald: Ich schreibe einen Roman.“ Inzwischen ist auch eine erste Drehbuchversion fertig, für die Segal die begehrte Filmförderung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters, erhielt. Leicht sei dieser Umweg nicht gewesen, meint er. Die Adaption seiner Geschichte aus einer Ich-Perspektive in ein Drehbuch aus der Sicht eines Dritten, das bedeutete für Segal, sich von sich selbst zu verabschieden. „Man muss ,out of the box‘ denken. Aber wie kann man aus der eigenen Box heraus denken? Das war sehr schwer, und ob es mir gelungen ist, werden andere beurteilen.“ Ein Glücksfall ist sein Umweg aber schon jetzt, denn Ron Segal entdeckte sich als Schriftsteller.
In Deutschland geblieben
Inzwischen schreibt er an seinem dritten Roman. Der zweite, eine schwarze Komödie über den gegenwärtigen Nachhall des Sechs-Tage-Kriegs in Israel, erscheint demnächst in seiner Heimat und hat dort auch schon einen Preis gewonnen. Weil seine auf Hebräisch geschriebenen Bücher ins Deutsche übersetzt werden, geht Ron Segal auch mit „Jeder Tag wie heute“ noch immer auf Lesereise, und zwar in Deutschland. „Diese Tradition, die es in Israel nicht gibt, ist für mich eine persönliche Bereicherung.“ Aus eigener Initiative liest er besonders gern in Schulen, sucht die Begegnung mit jungen Deutschen und liebt das Gespräch über die Herausforderung der Erinnerung an den Holocaust.
Seit seiner Zeit als DAAD-Stipendiat 2009 und den Recherchen im Visual History Archive lebt der Israeli außerdem mit Unterbrechungen in Berlin. „Ich bin für die Liebe geblieben − die Liebe zu dieser Stadt.“ Diese Liebe teilt er inzwischen mit seiner deutschen Frau und dem gemeinsamen Kind. Berlin bedeutet für Ron Segal aber auch den offenen Zugang zu Europa und ein Tor zur Welt. Von hier aus reist er, hier arbeitet und schreibt er und von hier erzählt er jede Woche seiner Großmutter in Israel am Telefon aus ihrer einstigen Heimatstadt.
Bettina Mittelstraß (4. April 2018)