Manifestationen von Verletzlichkeit
Julia Phillips
„Muter“: ein Werk der New Yorker Künstlerin und DAAD-Alumna Julia Phillips
Noch bis September 2018 sind Arbeiten der 1985 in Hamburg geborenen Künstlerin Julia Phillips in der Einzelausstellung „Failure Detection“ im New Yorker MoMa PS1 zu sehen. Zur gleichen Zeit werden Werke von ihr im Rahmen der 10. Berlin Biennale ausgestellt. Ein Porträt der jungen Bildhauerin, die zweimal vom DAAD gefördert wurde.
Das Objekt auf dem Tisch sieht auf den ersten Blick aus wie ein Gürtel. Eine wie Metall schimmernde Schnalle, ein wie Leder wirkender Riemen. Dann sieht man den Abdruck der Nase. Die Augenringe. Das Loch, wo ein Mund sein könnte. Dann liest man den Namen: „Muter“. Vom Englischen Wort „mute“ − zum Schweigen bringen. Was da liegt, symbolisiert einen Maulkorb. Es schaudert den Betrachter, denn der Gedanke an eine Mundfessel aus Metall und Lederriemen ist martialisch. Und dann erst erkennt man noch etwas: Das Objekt ist eine filigran gefertigte Arbeit aus fragiler Keramik, brutal und brüchig zugleich. Dieser Widerspruch macht nachdenklich.
„Eingrenzung und Grenzüberschreitung“
„Wenn man sich meine Formen anschaut, kann es um Schmerz gehen, um Eingrenzung und Grenzüberschreitung, um Machtverhältnisse und all die sozialen, politischen, aber auch intimen Mechanismen, von denen wir aus dem Zusammenleben wissen“, erzählt Julia Phillips an einem Sommertag in einem Berliner Café. „Aber das ist nur ein Aspekt. Es geht mir auch darum, auf Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit zu verweisen.“
Die Verletzlichkeit von Körper und Seele spricht Julia Phillips mit ihrer Kunst an: nicht nur mit Blick auf den privaten Körper, auf Verletzungen in zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch mit Gedanken an gesellschaftliche und politische Körper. „Muter“ überlässt es dem Betrachter, ob er dabei an Eingriffe in die eigene Persönlichkeit denkt, die jeder kennt – zum Beispiel an ein zum Schweigen verurteilendes „Halt den Mund!“ – oder an politische Systeme, die Presse- und Meinungsfreiheit einschränken und Autoren Redeverbote erteilen.
„Ambivalente Objekte“
Julia Phillips arbeitet mit wiederkehrenden Elementen wie Riemen, Schnallen oder Flügelschrauben und limitierten Abdrücken ihres eigenen Körpers aus Keramik – einem halben Gesicht oder Teilen einer Hand. Manchmal verbindet sie die Objekte mit Metallrohren oder legt sie auf Tische, die an das Operieren oder Sezieren von Körpern erinnern. „So komme ich zu sehr ambivalenten Objekten, auf die man unterschiedlichste Erfahrungen und Gedanken projizieren kann“, erläutert die DAAD-Alumna. Es ist ihr wichtig, mit jedem Objekt vom Ausdruck ihrer eigenen Vorstellungen zum Ausdruck von gesellschaftlichen Verhältnissen zu gelangen.
Ebenso wichtig ist ihr, dass man ihre Arbeiten intuitiv versteht. „Ich habe eine Formensprache gesucht, die selbst Laien zugänglich ist“, sagt sie. Beim Besuch einer Ausstellung alter Waffen und Rüstungen im Metropolitan Museum of Art in New York im Jahr 2014 hat sie diese Sprache gefunden. „Die Formen von 300 Jahre alten Rüstungen versteht man spontan. Sie sind eine intuitive Erweiterung der Körpers und seiner natürlichen Grenzen.“ So wollte sie künstlerisch sprechen.
Künstlerischer Durchbruch in New York
2012 hatte Julia Phillips ihr Studium an der Hochschule für bildende Künste Hamburg erfolgreich abgeschlossen, war mit einem DAAD-Kurzzeitstipendium in den USA gewesen und 2013 erneut mit einem DAAD-Jahresstipendium zum Masterstudium an die Columbia University, School of the Arts, in New York City aufgebrochen. Nach dem Ende der Förderung entschied sie sich, bis zum Masterabschluss weiter an der Columbia zu studieren, trotz der hohen Studiengebühren. Dafür wurde sie mit ihrem künstlerischen Durchbruch belohnt. Nach dem Master nahm sie das Whitney Museum of American Art ins „Independent Study Program“ auf. Vier Aufenthalte im Ausland konnte sie als Residence-Künstlerin absolvieren, ihre Arbeiten werden seit 2015 weltweit präsentiert und mit der Einzelausstellung im MoMa PS1 hat sie sich als Künstlerin einen besonders klangvollen Namen gemacht.
Grenzüberschreitungen sind für Julia Phillips Inspirationsquellen. Sie wuchs bi-national und bi-kulturell auf und besitzt einen amerikanischen und einen deutschen Pass. Schon als Schülerin überschritt sie mit der Entscheidung, Kunst zu studieren, die Grenzen der elterlichen Vorstellungen. Jetzt fasst sie auch in Deutschland als Künstlerin Fuß, weil sie für ihre Entwicklung die Grenzen des Landes hinter sich ließ. Auch der Wechsel von einer Sprache in die andere inspiriert sie: „Wenn ich im Sommer 2018 über zwei Monate in Deutschland bin, spreche und denke ich über meine in den USA entstandenen Arbeiten erstmals auf Deutsch. Da ergeben sich sicher wieder neue Aspekte.“
Bettina Mittelstraß (10. Juli 2018)