Friedenspreisträgerin Aleida Assmann: „Mitmenschlichkeit muss trainiert werden“
Stephan Sahm/laif
Aleida Assmann im Interview mit DAAD Aktuell
Professor Aleida Assmann, die gemeinsam mit ihrem Ehemann Professor Jan Assmann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2018 erhält, zählt zu den herausragenden intellektuellen Stimmen Deutschlands. Im Interview mit DAAD Aktuell spricht die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin über ihr neues Buch „Menschenrechte und Menschenpflichten“, Deutschlands Umgang mit Geflüchteten und über eine Erinnerungskultur, die unterschiedliche Generationen und Herkünfte verbindet.
Aleida Assmann beschäftigt sich in ihrem wissenschaftlichen Arbeiten neben Anglistik und Archäologie seit den 1990er-Jahren vornehmlich mit der Thematik des kulturellen Gedächtnisses. Dieses verstehen sie und ihr Ehemann, der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann, als offiziell institutionalisierte, konstruierte Form kollektiven Erinnerns – in Abgrenzung zu rein subjektiven, individuellen Erinnerungen. Als Gastprofessorin hat Aleida Assmann diese Forschung auch weltweit vorgestellt, ebenso während einer vom DAAD geförderten Kurzzeitdozentur in Japan 1998.
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Der Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hebt in seiner Preisbegründung mit Blick auf Aleida Assmann hervor: "Ihr Werk weist darauf hin, dass ein offener und ehrlicher Umgang mit der Vergangenheit grundlegende Bedingung für ein friedliches Miteinander ist." Das spiegelt auch ihr neues Buch, in dem sie den Wert von Menschenpflichten wie Solidarität und Fairness betont.
Frau Professor Assmann, in Ihrem neuen Buch „Menschenrechte und Menschenpflichten“ plädieren Sie für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Warum ist der nötig?
Aleida Assmann: Ich setze auf der Ebene des konkreten menschlichen Miteinanders an. Das Ausmaß der verschiedenen Herkünfte und Lebensarten der Menschen in Deutschland hat zuletzt stark zugenommen. Diese Vielfalt führt auch zu Spannungen. Es ist aber wichtig, dass wir unsere Bedürfnisse ständig mit den Bedürfnissen anderer abgleichen; wir brauchen etwas Verbindendes, damit unterschiedliche Positionen nebeneinander bestehen können. Wenn es uns nicht gelingt, dies auszubalancieren, droht gesellschaftliche Ungleichheit, die schwerwiegende Folgen bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen haben kann.
Sie betonen die universelle Gültigkeit der Menschenpflichten. Woran machen Sie diese fest?
Die Regel aller Regeln, die den Kern der Menschenpflichten ausmacht, ist die „Goldene Regel“: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Das Eigeninteresse muss mit dem Wohl der anderen in Einklang gebracht werden. Dieser Grundsatz fasst eine seit über 4.000 Jahren weltweit verbreitete Erfahrungsweisheit zusammen. Alle Kulturen der Welt haben sich Regeln für das Zusammenleben gegeben, die Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Mitmenschen einfordern. Der InterAction Council formuliert in Artikel 1 seiner 1997 den Vereinten Nationen vorgelegten Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten, dass jede Person, unabhängig von ihrem Geschlecht, ethnischer Herkunft, sozialem Status, politischer Überzeugung, Sprache, Alter, Nationalität oder Religion, die Pflicht hat, alle Menschen menschlich zu behandeln. Erst durch die Achtung der Menschenpflichten kann ein Klima entstehen, in dem auch die Menschenrechte tatsächlich verwirklicht werden.
Stephan Sahm/laif
Aleida Assmann: "Weltweit können wir beobachten, dass sehr viel Aggressivität und Gewalt in die Sprache zurückgekehrt sind"
In Ihrem Buch sprechen Sie auch die aktuelle Flüchtlingskrise und ihre Auswirkungen auf Deutschland an.
Mit der Flüchtlingskrise hat sich im sozialen Diskurs etwas verschoben: In Deutschland haben wir auf der einen Seite seitdem große Hilfsbereitschaft erlebt, auf der anderen Seite ein zunehmendes Bedrohungsbewusstsein. Angst vor dem Fremden kann leicht in Aggressivität umschlagen. Weltweit können wir beobachten, dass sehr viel Aggressivität und Gewalt in die Sprache zurückgekehrt sind. Das zeigt sich auch in der Politik, im Internet und in den Sozialen Medien. Mitmenschlichkeit muss demgegenüber immer wieder trainiert und gepflegt werden. Deshalb spreche ich mit Blick auf die universell gültigen Menschenpflichten auch von einem ungenutzten Potenzial, das mehr bietet als die Debatte um eine deutsche Leitkultur. Dabei ist diese Debatte gar nicht schlecht, wenn sie zu einer Reflexion über das Selbstbild unserer Gesellschaft führt. Falsch ist es aber, daraus ein Vorbild für die Zuwanderer zu machen, an das sie sich eins zu eins anpassen müssen.
Mit der Identität der Deutschen haben Sie sich besonders mit Blick auf die Erinnerungskultur intensiv beschäftigt. Was hat Sie dazu gebracht, sich so stark für den Wert der Erinnerung einzusetzen?
Lange Zeit wurde das kulturelle Gedächtnis von der Wissenschaft völlig vernachlässigt. Das hängt wesentlich mit dem Modernisierungs-Paradigma der westlichen Kultur zusammen: Ständig musste mit Traditionen gebrochen werden; nur Innovation zählte, alles war auf die Zukunft hin orientiert. Erinnerung spielte nur individualpsychologisch eine Rolle. Die Einsicht, dass Individuen nicht ganz selbstständig sind, sondern es auch Herkünfte und Zugehörigkeiten gibt, dass es nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Identitäten gibt und dass Gruppenzusammenhalt dadurch entsteht, dass man an einem gemeinsamen Gedächtnis teilhat, all das hat sich erst in den 1990er-Jahren langsam durchgesetzt.
Ist ein solcher Gruppenzusammenhalt, zum Beispiel bei einer kollektiven Opfererinnerung, nicht auch problematisch, da es leicht zu einem Ausschluss anderer Erinnerungen kommen kann?
Das ist richtig. Deshalb hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg als Ausweg aus dieser Situation den Begriff der „multidirectional memory“ geprägt: Die unterschiedlichen Erinnerungen verschiedener Menschen lassen sich aneinanderkoppeln. Statt Wettbewerb also ein gegenseitiges Stützen von Erinnerungssystemen. Ein Beispiel dafür erleben wir gerade im Zuge der Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck sprach schon 2015, als erstmals der nationale „Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“ begangen wurde, von einem „Schicksalsvergleich“: Wenn sich die Deutschen an ihre eigenen Fluchterfahrungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erinnern, sind ihnen die Erfahrungen der Geflüchteten der Gegenwart nicht mehr so fremd. Über ähnliche Erfahrungen kann man Empathie transportieren.
Stephan Sahm/laif
Aleida Assmann: "Die Vergangenheit verschwindet nicht"
Zeitzeugen sterben aus. Was bedeutet das, etwa für die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Verbrechen des Holocaust?
Auch wenn sich der Erinnerungshorizont verschiebt: Die Vergangenheit verschwindet nicht. Sie ist in Büchern gespeichert wie auch in Neuen Medien. Aktuell wird intensiv daran gearbeitet, letzte Zeitzeugen des Holocaust zu filmen, damit sie als Hologramme auch einmal jüngeren Generationen berichten können. Ich glaube nicht daran, dass eine technische Konstruktion die Anmutung eines lebendigen Zeitzeugen ersetzen kann. Mich überzeugt dagegen das Konzept der „Zweitzeugenschaft“: Junge Deutsche haben schon in den Neunzigerjahren damit begonnen, Holocaust-Überlebende zu treffen, ihnen zuzuhören und als Träger ihrer Geschichten das Erfahrene weiterzugeben, zum Beispiel an Schulklassen. So bleiben Erinnerungen im Kontext von persönlichen Begegnungen und persönlichen Erzählungen.
Welche Rolle spielt der internationale Austausch für Ihre Forschung?
Eine ganz wichtige Rolle. Überall auf der Welt erleben mein Mann und ich großes Interesse an der deutschen Erinnerungskultur und an unterschiedlichen Wegen, mit der Vergangenheit umzugehen – von der Aufarbeitung der Apartheid in Südafrika über die Erinnerung an Diktaturen in Lateinamerika bis zum unterschiedlichen Umgang mit dem Spanischen Bürgerkrieg in Barcelona und Madrid. Man muss vor Ort sein, um wahrnehmen zu können, was die Menschen bewegt. Das hält die Forschung lebendig. Eine schöne Erinnerung an Japan verbinde ich mit dem DAAD: 1998 habe ich mit seiner Förderung am Tateshina-Symposium der Japanischen Gesellschaft für Germanistik teilgenommen. Ich habe dort meine Arbeiten zu Gedächtnis und Literatur vorgestellt. Das Thema war damals noch ganz neu. Die Offenheit und Diskussionsfreude der japanischen Kolleginnen und Kollegen war außerordentlich – und ihre Kenntnisse der deutschen Literatur und Sprache exzellent.
Interview: Johannes Göbel (12. Oktober 2018)