Janos Cegledy: Musikalischer Brückenschlag zwischen den Kulturen
Sonja Blaschke
Kaum jemand verkörpert den polyglotten Weltenbürger so wie der Pianist und Komponist Janos Cegledy. Er kam in Ungarn als Sohn jüdischer Eltern auf die Welt, wuchs in Neuseeland auf, ging trotz traumatischer Kriegserlebnisse nach Deutschland zum Musikstudium, versuchte in London Fuß zu fassen und schlug schließlich über einen Umweg in Australien Wurzeln in Japan, wo er noch heute lebt.
Wir treffen uns am Bahnhof von Nerima im Nordwesten Tokyos. Janos Cegledy wohnt mit seiner Familie in der Nähe. „Es tut mir leid, dass ich Sie nicht zu Hause empfangen kann. Dort wird gerade umgebaut, es ist sehr laut”, sagt der schlanke Mann mit hellgrauem Haar und wachen Augen hinter einer feinen Brille entschuldigend. Er trägt eine dunkelblaue Windjacke über einem schwarzen Hemd und dunkler Hose, über eine Schulter hat er einen kleinen Rucksack geworfen. Gleich neben dem Bahnhof setzen wir uns in einen Aufenthaltsraum der Stadt mit angeschlossenem Café. An den Nebentischen machen Schülerinnen in Uniform Hausaufgaben. Einige Senioren lesen Zeitung. Cegledy blättert durch ein breitformatiges Fotoalbum mit Seiten aus festem schwarzem Papier, in dem viele Schwarzweißaufnahmen kleben, manche nur wenige Zentimeter klein. Viele zeigen junge Menschen verschiedener Nationalitäten, mal in der Natur, mal in einem Musiksaal. „50 Jahre lang habe ich hier nicht mehr hineingeschaut“, sagt Cegledy, der sein Alter mit 81,5 Jahren angibt. Erinnerungen tauchen vor seinem inneren Auge auf.
Janos Cegledy ist Pianist, Musikpädagoge und Komponist. In der ungarischen Hauptstadt Budapest als Sohn jüdischer Eltern geboren, lebt und arbeitet Cegledy, der einen neuseeländischen Pass besitzt, seit 1967 in Japan. Als er Teenager war, ist seine Familie von Ungarn nach Neuseeland ausgewandert, wo er blieb, bis er dort die Universität abschloss. Und bis ihn ein DAAD-Stipendium wieder nach Europa, nach Deutschland führte.
Über den ungewöhnlichen Verlauf seines Lebens scheint er selbst zu staunen. Er sei ein Spätzünder gewesen, sagt Cegledy. Bis zum 18. Lebensjahr habe er Klavier für sich allein gespielt, ohne Unterricht zu nehmen. Es gab schlicht keine Lehrer in der neuseeländischen Kleinstadt, wo er mit seiner Familie seit seinem elften Lebensjahr lebte. Dort hatten sie nach dem Zweiten Weltkrieg Zuflucht und ein neues Leben gesucht, wollten die Gräuel des Krieges hinter sich lassen. Seine Eltern hatten Aufenthalte in Konzentrationslagern, Cegledy, sein Bruder und nahe Verwandte das Ghetto in Budapest überlebt.
„Es war die trostloseste und dunkelste Zeit meines Lebens“, sagt Cegledy über die Kriegszeit – aber keine, von der er den Rest seines Lebens dominieren ließ. Mehrmals greift der Musiker im Gespräch auf ein Zitat des amerikanischen Schriftstellers Mark Twain zurück: „The only difference between reality and fiction is that fiction needs to be credible.“ So beschreibt er augenzwinkernd sein Leben zwischen Kontinenten, Sprachen und Kulturen – und immer mit der Musik. „Mein Leben ist zu fantastisch“, erklärt er. „Ich bin ein in Ungarn geborener Neuseeländer, der die meiste Zeit seines Lebens in Japan verbracht hat.“ Sein 84-jähriger Bruder Steven lebt noch heute in Neuseeland. Erst im November hat er ihn gerade wieder besucht.
Janos Cegledy vor dem Nerima Culture Center in Tokyo.
Schicksalhafte Begegnung
Es war eine Begegnung – fantastisch ganz im Sinn von Mark Twain –, die Cegledys Leben im abgelegenen Neuseeland einen unerwarteten Drall gab. Der junge Mann, dessen Eltern sich Sorgen machten, weil er als Kind „nichts anderes tat, als Klavier zu spielen“, lernte während seines Musik- und Philosophiestudiums in Wellington den angesehenen Pianisten Andor Foldes kennen, einen Landsmann, der auf der Flucht vor dem Holocaust nach Amerika ausgewandert und gerade auf Neuseeland-Konzerttour war. Cegledy ergriff die Initiative und lud Foldes nach dessen Konzert in Wellington zu einem seiner eigenen Konzerte ein. Mangels Zeit habe dieser abgelehnt, schlug jedoch ein weiteres Treffen vor: „Dann finden wir einen Platz, mit Klavier, und Sie spielen mir vor.“ Danach lud Foldes den engagierten jungen Pianisten direkt in seinen Meisterkurs nach Deutschland ein. Er hatte gerade den Lehrstuhl an der Staatlichen Hochschule für Musik in Saarbrücken übernommen. „Es war eine wunderbare Gelegenheit“, sagt Cegledy über das Angebot.
Wie reagierten seine Eltern, als er ihnen von der Idee, nach Deutschland zu gehen, erzählte – in das Land der Täter? Sein Vater, ein sanfter Mann, habe damals gesagt: „Wenn du denkst, dass du dort gut studieren kannst, dann geh.“ Außerdem erkundigte sich der Vater beim Professor selbst, wie er die Lage in Deutschland empfinde. Dieser habe geantwortet, dass er nicht dort unterrichten würde, wenn sie nicht ganz anders sei (als zur Zeit des Nationalsozialismus). Es war sein Professor – „ein freundlicher Mann, der sich nie geärgert hat“ –, der ihn damals auf die Fördermöglichkeiten durch den DAAD aufmerksam machte.
Als er die Zusage für das DAAD-Stipendium für Foldes‘ Meisterkurs bekam, habe er neben Freude Stolz verspürt, dass er in eine „so gute Gruppe“ eintreten durfte, sagt Cegledy. „Ich hatte das Gefühl, nicht auf dem Niveau der anderen wunderbaren Leute zu sein, und fragte mich, warum ich eingeladen wurde. Vielleicht, weil sie sahen, dass ich meine eigenen Vorstellungen hatte.“ Von 1960 bis 1964 lebte Cegledy daraufhin in Deutschland.
Das DAAD-Stipendium habe er als Neuseeländer bekommen, betont der Musiker. Über die Geschichte seiner Familie habe er nicht gesprochen. „Ich wollte das Stipendium ausschließlich basierend auf meinen eigenen Leistungen bekommen und nicht als eine Art Wiedergutmachung für vergangene Ungerechtigkeiten. Was mir während dieser dunklen Kriegszeiten zustieß, hatte keinerlei Relevanz für das DAAD-Stipendium oder für das, was ich danach in meinem Leben erreicht habe – wobei mir für mein weiteres Leben sicher geholfen hat, was ich in meinen drei Jahren Studium in Deutschland gelernt habe.“
Konsequent vermied er es, in Deutschland über den Krieg zu sprechen. „Ich fand es nur angemessen, nicht über meine oder die Erfahrungen meiner Familie während des Holocaust zu sprechen, da ich ja quasi ein Gast Deutschlands war.“ Ungarn war vom 19. März 1944 bis zur Befreiung durch Russland am 18. Januar von Deutschland besetzt. Schon vorher, aber vor allem während der Besetzung, wurden Juden diskriminiert, misshandelt und umgebracht. Von 800.000 Juden in Ungarn vor dem Krieg wurde ein Viertel ermordet. Trotzdem habe er sich häufiger gefragt, wenn er Hände von Personen schüttelte, die etwa eine Generation älter waren als er, „was für eine Art Hand ich hier schüttle; aber ich habe sie trotzdem geschüttelt, da man das so machte.“ Er hätte ja schlecht fragen können, ob die Person jemanden umgebracht hatte oder unbeteiligt daneben stand – und so die schrecklichen Taten billigte.
Allerdings sei er umgekehrt von Deutschen öfter darauf angesprochen worden, die an seinem anderen Kleidungsstil sahen, dass er Ausländer war. „Im Krieg war es furchtbar“, hörte er von Menschen, die neben ihm in der Gaststätte saßen und ein Gespräch anfingen, oder: „Wir haben nichts damit zu tun gehabt.“ Er sei einmal bei einem engen deutschen Studienfreund zu Besuch gewesen, als dessen Vater sagte, dass es in der Familie keine Nazis gegeben habe. Doch dessen Frau widersprach: „Nein, nein, Papi, erinnerst du dich an den Onkel, der war in der Partei!“ Es sei eine Zeit der Umerziehung gewesen, als in Fernsehen und Rundfunk täglich die Frage diskutiert wurde: „Was hat mein Vater getan?“ Damals begann das Land, über eine Generation nach Kriegsende, sich verstärkt mit der Kriegsvergangenheit auseinanderzusetzen.
Er habe Deutschland damals als ein Land erlebt, das von Konrad Adenauer geprägt gewesen sei, sagt Cegledy, einem Bundeskanzler, der sich stark zu Europa hinwandte, mit der Absicht, durch wirtschaftliche Verflechtungen künftig Kriege zu verhindern. „Ich denke, der Einfluss von ihm auf Deutschland war sehr wichtig.“
Für die Liebe nach Japan
Während er weiter durch das Fotoalbum blättert, fällt sein Blick auf Bilder mit Studierenden, die ihm beim Klavierspiel zuhören. Darunter ist auch eine junge Japanerin, Reiko, die ihr Haar im Stil der damaligen Zeit am Oberkopf antoupiert trägt. Drei Jahre nach ihrem Kennenlernen heirateten die beiden in London. Beruflich dort Fuß zu fassen, gelingt ihnen mangels „Connections“ nicht. Stattdessen führt sie der Weg erst drei Jahre nach Neuseeland, dann auf Tour durch Australien und schließlich 1967 nach Japan. Cegledy sollte dort seine Schwiegereltern kennenlernen. Was als Kurzaufenthalt geplant war, führte nach Jobangeboten und mehrfachen Vertragsverlängerungen dazu, dass das Paar blieb.
Auch nach der Trennung von seiner ersten Frau blieb Cegledy in Japan und heiratete 1981 seine jetzige Frau Chiyoko, mit der er einen 36-jährigen Sohn hat. Sitze er einmal nicht am Klavier, genieße er „die Kunst des Lebens“, fotografiere gerne, mache Yoga und sammle Füllfederhalter – Letzeres eine Passion aus seiner Zeit in Deutschland.
Cegledy unterrichtet auf Englisch, Deutsch, Ungarisch und Japanisch. „Je nach Sprache bin ich eine andere Person“, sagt der Pianist. Sogar seinen Namen habe er mehrfach angepasst, in Neuseeland von Czegledi auf Cegledy, von Janos auf John. Erst als er nach Deutschland zog, nannte er sich wieder Janos. Es könne ohnehin keiner seinen Namen aussprechen, er sei das gewohnt. „Wenn man so wie ich im Ausland lebt, ist man immer ein Ausländer, in Neuseeland ein ‚bloody foreigner‘, in Japan ein ‚gaijin‘ (Anmerkung: etwas abwertender Begriff für Ausländer in Japan)“, sagt Cegledy und lacht lauthals.
Sein Wirken als Zeitzeuge
Neben der Musik engagiert sich Cegledy seit einigen Jahren in der Holocaust-Aufklärung. Er erzählt an Schulen darüber, was er in den Jahren 1944 und 1945 erlebte. „Sich daran zu erinnern, wird schmerzhafter, je älter ich werde“, schreibt er nach dem Gespräch in einer E-Mail. Er habe bis vor relativ kurzer Zeit nie darüber gesprochen. Erst als er von Fumiko Ishioka, die das Tokyo Holocaust Education Resource Center gründete, gebeten wurde, als Zeitzeuge von seinen Erfahrungen zu erzählen, änderte sich das. „Mir ist bewusst geworden, dass es jetzt mehr Menschen gibt, die den Holocaust leugnen, als Überlebende des Holocausts und dass das, was ich sage, womöglich eine gewisse Bedeutung hat.“ Cegledy gilt als der letzte Holocaust-Überlebende in Japan.
Rückblickend mag es ein gewisser Kampfgeist gewesen sein, der Cegledy durch schwierige Zeiten geführt hat, ihn Rückschläge wegstecken ließ. „Pianist ist kein friedlicher Beruf, es gibt viel Sturm! Man braucht Temperament“, sagt er und lacht. „Ich bin glücklich darüber, wie sich mein Leben entwickelt hat, dank meiner Lehrer und dank des DAAD.“ Und wenn ihm doch einmal die Worte fehlen, bleibt die Musik, „mein Hobby, glücklicherweise mein Beruf und meine Liebe“, sagt er. „Was man nicht mit Worten ausdrücken kann, kann man mit Musik!“ Sein Rat für junge Menschen heute: „Am wichtigsten ist es, früh anzufangen, mit allem. Alles Unwichtige, was man sofort vergisst, weglassen!“
Ein Traum von Freiheit
Ein derart polyglottes Leben war Cegledy keineswegs in die Wiege gelegt. Bis zum Alter von sieben Jahren lebte seine Familie in der ungarischen Hauptstadt Budapest, in einer guten Mittelstandsgegend. „Wir hatten eine große Wohnung, mit Flügel – das gehörte sich so.“ Sein Vater Jozsef war Großhändler, seine Mutter Zsuzsa, die mehrere Sprachen fließend sprach, half wiederwillig ihrem Vater in dessen Import- und Exportgeschäft. Sie hätte lieber studiert, konnte aber nicht, aufgrund von Restriktionen für Juden. Bereits seit Ende der 1930er-Jahre hatte sich Ungarn zum Vasallenstaat Deutschlands entwickelt und trat 1940 dem Dreimächtepakt mit Deutschland, Italien und Japan bei.
1944 verschärfte Deutschland den Druck auf Ungarn, setzte dort eine nationalsozialistische Regierung ein und begann mit der Ghettoisierung und Deportation von hunderttausenden Juden. „Wenn wir fünf Kilometer weiter entfernt gewohnt hätten, dann würde ich heute hier nicht sitzen“, sagt Cegledy. Von rund 800.000 Juden, die Anfang der 1940er-Jahre in Ungarn wohnten, überlebte nur ein Viertel den Holocaust. Die meisten starben in Auschwitz. Auch seine Eltern wurden deportiert, der Vater nach Mauthausen, die Mutter nach Lichtenwörth. Beide überlebten „wie durch ein Wunder“, sein Vater abgemagert auf 28 Kilogramm.
Dabei sei sein Vater einer der wenigen gewesen, die früh die dunklen Wolken gesehen haben, die am Himmel aufzogen. Es scheiterte jedoch an einer Formalität – an einem Visum. Anfang der 1930er-Jahre entdeckte der Vater eine Reihe von Büchern über ein Land am anderen Ende der Welt, Neuseeland. Die Gesellschaft dort erschien ihm freier, demokratischer und egalitärer. „Dort will ich leben“, soll sein Vater bereits 1936 gesagt haben. Trotzdem sollte es noch bis nach dem Krieg dauern, bis die Familie dorthin übersiedeln konnte. Sein Vater hatte das Konditorhandwerk erlernt, in der Hoffnung, dadurch leichter ein Visum zu bekommen – eine Fehleinschätzung. Mehr Glück hatte der zum Elektriker ausgebildete Bruder des Vaters: Er bewarb sich auf Anraten des Bruders ebenfalls, bekam das Visum und bestieg 1941 eines der letzten Schiffe von Southampton nach Neuseeland. Bald erlangte er die neuseeländische Staatsbürgerschaft. Nach dem Krieg holte er seinen Bruder und dessen Familie nach. Janos war damals elf Jahre alt.
Eckdaten zu Janos Cegledy
- Seit 1967 Professor für Klavier am Toho College of Music in Tokyo
- Seit 1983 Professor für Klavier an der Musashino Academy of Music in Tokyo, einer der führenden Musikschulen Japans, einst sogar die größte der Welt
- Touren als Konzertpianist durch Australasien, den Mittleren Osten und die USA
- Seit 1991 Präsident der gemeinnützigen Leschetizky Society of Japan, die junge Musiker fördert
- Regelmäßig Jury-Mitglied bei internationalen Piano-Wettbewerben
- Veröffentlichung eigener Kompositionen
- Editionen von Werken anderer Komponisten, darunter die Sonaten von Ludwig van Beethoven sowie Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Claude Debussy und Richard Strauss
Sonja Blaschke (24. Januar 2019)
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