So blickt die Welt derzeit auf Deutschland und die EU

DAAD/David Ausserhofer

Unter dem Titel „Envisioning the Future: Zukunftsvisionen für Deutschland und Europa“ fand kurz vor dem Jahreswechsel in Berlin die große Fach- und Netzwerkkonferenz der aus Mitteln des Auswärtigen Amts über den DAAD geförderten Zentren für Deutschland- und Europastudien statt. Diskutiert wurden aktuelle Themen wie Migration, Populismus, die (Des-)Integration Europas und gesellschaftliche Auswirkungen von technologischen Entwicklungen. DAAD Aktuell hat zwölf Zentrenleiterinnen und -leiter gefragt, wie in ihren Ländern derzeit auf Deutschland und Europa geblickt wird.

VEREINIGTES KÖNIGREICH

Zentrenleiter Nicholas Martin

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Dr. Nicholas Martin, Direktor des Institute for German Studies (IGS) an der University of Birmingham

„‚Deutschland, wo bist Du?‘ Diese ewig wiederkehrende Frage stellt sich 2019 erneut und dringender denn je, auch im gespaltenen Großbritannien. Gibt es einen gemeinsamen Nenner, der die Menschen, die in Deutschland leben, als Nation verbindet? Gibt es ein ‚Inneres, das uns [Deutsche] verbindet‘ (Thomas de Maizière, 2017)? Die Globalisierung und die damit zusammenhängende Vernetzung der Welt lassen hoffen, dass nationale Grenzen immer mehr in den Hintergrund rücken oder gar verschwinden. Und die Deutschen hätten angeblich aus ihrer düsteren Vergangenheit gelernt. Doch flackert nationalistischer Rassenwahn unter Rechtsextremisten in Deutschland und unter Brexit-Befürwortern in Großbritannien immer wieder auf. Der Krieg gegen solche Vorurteile ist noch längst nicht gewonnen. Wir, Deutschland und seine Partner, müssen beweisen, dass Zusammenhalt nur durch das energische und wachsame Verfechten von Gerechtigkeit, Liebe, Respekt und Demokratie aufrechtzuerhalten und zu fördern ist.“

USA

Zentrenleiter Katrin Sieg

privat

Professor Katrin Sieg, Direktorin des BMW Center for German and European Studies an der Georgetown University in Washington, DC

„Auf politischer und wirtschaftlicher Ebene waren die transatlantischen Beziehungen in den vergangenen Monaten von Spannungen gekennzeichnet. Und das, obwohl ja einige Entwicklungen in der EU parallel zu denen in den USA verlaufen, vom Erstarken rechtspopulistischer Parteien und Regierungen bis zum Angriff auf eine unabhängige Justiz, zum Beispiel in Polen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die strukturelle Diskriminierung von Frauen, Migrantinnen und Migranten sowie Minderheiten zu thematisieren und ihr entgegenzutreten; an unserem Zentrum haben wir uns in diesem Jahr besonders mit der Frage der Geschlechtergleichheit in Deutschland und der EU beschäftigt. Persönlich erforsche ich die Darstellung der deutschen Kolonialgeschichte in Museen. Die akademische und öffentliche Auseinandersetzung mit historischer und andauernder Ungerechtigkeit betrachte ich als unerlässlich für demokratische Widerstandsfähigkeit.“

SÜDKOREA

Zentrenleiter Nury Kim

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Professor Nury Kim, Direktor des Zentrums für Deutschland- und Europastudien (ZeDES) an der Chung-Ang-Universität Seoul

„Deutschland wird in Korea nach wie vor sehr positiv wahrgenommen. Besonders das deutsche Wahlsystem ist in der koreanischen Politik ein aktuelles Thema: Die Vorsitzenden der zwei kleinen Parteien im Parlament versuchten zuletzt sogar, das deutsche Wahlsystem mit einem Hungerstreik zu erkämpfen. Auch gewinnt das Thema der deutschen Einheit in der koreanischen Öffentlichkeit erneut an Aufmerksamkeit, weil Süd- und Nordkorea sich im vergangenen Jahr rapide angenähert haben. Die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands gilt natürlich als Vorbild.

Die Probleme Europas wie die Flüchtlingswelle, die Ausbreitung des Rechtsradikalismus und die Krise der Demokratie werden in Korea zwar mit Bedenken wahrgenommen, aber nur wenige sehen die Zukunft der Europäischen Union skeptisch.“

RUSSISCHE FÖDERATION

Zentrenleiter Andreas Vasilache

privat

Professor Andreas Vasilache, Direktor des Zentrums für Deutschland- und Europastudien (ZDES) an der Universität Bielefeld und der Staatlichen Universität St. Petersburg

„Es wäre ein Irrtum, von einer einhelligen und einförmigen Wahrnehmung Deutschlands und der Europäischen Union in Russland auszugehen. Eine solche Vorstellung würde die soziale, ökonomische und auch politische Diversität der russischen Gesellschaft verkennen. Gleichwohl wird die europäische Ablehnung der Eingliederung der Krim in die Russische Föderation mehrheitlich mit Unverständnis zur Kenntnis genommen. Dies erklärt die politische Wirkungslosigkeit des Sanktionsregimes, durch das die russische Bevölkerung empfindlich getroffen wird. Seit 2014 liegt ein besonderes Augenmerk in Russland – und vor allem in den dortigen Massenmedien – auf den multiplen Krisen der EU. Im politischen System Russlands wird dabei zwar einerseits konstatiert, dass die europäischen Krisenphänomene nicht zu einer Aufweichung der Sanktionen geführt haben. Dieser Feststellung steht aber die Hoffnung gegenüber, dass – durch den Brexit sowie durch eine mögliche Entfremdung zwischen Europa und den USA unter Trump – sich die Gewichte innerhalb der EU in eine für Russland günstigere Richtung verschieben. Es wird wahrgenommen, dass sich Deutschland innerhalb der EU und des westlichen Bündnisses aktuell verstärkt für eine Intensivierung des Dialogs mit Russland einsetzt. In der russischen Gesellschaft herrscht insgesamt – und trotz der Spannungen der letzten Jahre – ein positives Deutschlandbild vor. Viele hegen die Hoffnung auf eine Normalisierung der Beziehungen zu Deutschland und der EU.“

POLEN

Deutsch-polnische Beziehungen: Interview mit Professor Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz

Professor Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des Willy Brandt Zentrums (WBZ) für Deutschland- und Europastudien an der Universität Breslau

„Polen und Deutschland stehen vor großen Herausforderungen. Es geht nicht nur um die bilateralen Beziehungen, sondern um ihre Zukunft in der Europäischen Union. Die Machtübernahme durch die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen und die Umsetzung einer der EU gegenüber skeptischen Politik durch diese Partei ist nicht folgenlos geblieben.

Die Politik der PiS-Regierung seit 2015 hat tiefgreifende Veränderungen in allen Lebensbereichen gebracht, von den Aktivitäten verschiedener staatlicher Institutionen über das Bildungswesen bis hin zu den Medien. Dies wird mit Besorgnis und oft mit Ablehnung durch die EU-Organe zur Kenntnis genommen. Warschau wurde schnell die Missachtung der gemeinsamen europäischen Werte vorgeworfen; es folgten Maßnahmen, um den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Polen zu überprüfen. Als Reaktion auf diese Maßnahmen wurden in Warschau Stimmen laut, die nicht nur Brüssel, sondern Berlin angriffen: Die Deutschen hätten sich in polnische Angelegenheiten eingemischt. Deutschland wurde wieder als nützliches Instrument angesehen, um die Polen zu erschrecken, und die Themen der Vergangenheit missbrauchte man für aktuelle politische Zwecke, da es an Ideen für die Gegenwart und Zukunft der Beziehungen mangelt. Es fehlt an einer gemeinsamen deutsch-polnischen Agenda für Europa. 2019 wird ein Test für die Zukunft sein: Neben den Wahlen zum Europäischen Parlament finden in Polen auch Parlamentswahlen statt.“

NIEDERLANDE

Zentrenleiter Ton Nijhuis

Kim Krijnen

Professor Ton Nijhuis, Direktor des Duitsland Instituut bij de Universiteit van Amsterdam (DIA)

„Für die Niederlande steht die EU eher für den freien Markt als für politische Integration. Europa ist – anders als in Deutschland – nie eine Ersatznation gewesen. Der Brexit wird aber sehr bedauert. Den Haag hatte ursprünglich Angst, dass es Paris ohne London gelingen könnte, Deutschland vor den Karren der französischen Politik zu spannen. Aus niederländischer Sicht versucht Präsident Macron, französische Probleme unter einem europäischen Deckmantel mit deutschem und niederländischem Geld zu lösen.

Gegenwärtig ist Den Haag eher zuversichtlich, dass Berlin weiterhin an seiner soliden (Spar-)Politik festhält. Merkels Rücktritt als CDU-Parteivorsitzende hat nicht zu Unsicherheiten geführt. Das allgemeine Gefühl ist, dass sich die deutsche Europapolitik auch in Zukunft durch Kontinuität auszeichnen wird. Große Sorgen bereitet allerdings die finanzielle Stabilität in Europa, sicherlich im Hinblick auf Italien – und nach Macrons ‚Kniefall‘ auch in Frankreich.“

KANADA

"Fire and Fury": Randall Hansen im Interview

Riley Stewart

Professor Randall Hansen, Forschungsleiter der Joint Initiative in German and European Studies (JIGES) an der University of Toronto

„Man kann durchaus sagen, dass Deutschland in Kanada positiv wahrgenommen wird. Kanzlerin Merkel gilt als vernünftig und kompetent. Aber wie auch in anderen Ländern wird sie seitens einer einwanderungsfeindlichen Rechten für die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 und die aus ihr folgenden Herausforderungen verantwortlich gemacht. Diese Gruppe der Kritiker ist in Kanada jedoch kleiner als in den meisten Ländern.

Die EU ist ebenfalls angesehen: Trotz Kanadas historischer Verbindungen mit dem Vereinigten Königreich bewertet kein populärer Kommentator Großbritanniens Entscheidung für den EU-Austritt als klug. Zwar ist zu bezweifeln, dass alle Kanadier die Unterschiede zwischen Europäischer Kommission, Europäischem Rat und Europäischem Gerichtshof erläutern können. Aber die EU wird mit Freihandel verbunden – und die Kanadier sind traditionell handelsfreundlich. So wurde zum Beispiel das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen CETA stark unterstützt, auch von linken Zeitungen. Die EU wird mit dem wirtschaftlichem Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden – und damit, dass ein Krieg zwischen ihren Mitgliedstaaten undenkbar scheint. Wie andernorts findet sich diese Sichtweise eher unter der älteren Bevölkerung, während junge Kanadier – wie auch junge Europäer – Frieden für selbstverständlich halten.“

JAPAN

Zentrenleiter Yuichi Morii

privat

Professor Yuichi Morii, Direktor des Zentrums für Deutschland- und Europastudien (DESK) an der Universität Tokyo

„Das lang ersehnte Freihandelsabkommen und das strategische Partnerschaftsabkommen zwischen Japan und der EU treten 2019 in Kraft. Damit werden die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen weiter vertieft. In der durch Unilateralismus instabil gewordenen Welt sind Partner mit gemeinsamen Werten wie Demokratie, Freihandel und einer regelbasierten Weltordnung unerlässlich. Die Abkommen festigen die Partnerschaft. Deutschland spielt dabei als einer der größeren Mitgliedstaaten der EU eine zentrale Rolle. Aber die gestärkten Beziehungen benötigen auch eine solide gesellschaftliche und menschliche Basis: Sie werden von der langen Tradition des wissenschaftlichen und kulturellen Austauschs zwischen Japan und Deutschland untermauert. Die Hochschulen sollten dabei intensiver zur Fortbildung der jüngeren Generationen beitragen, damit diese die Beziehungen auch künftig pflegen und weiterentwickeln.“

ISRAEL

Zentrenleiter Gili Drori

privat

Professor Gili S. Drori, Direktorin des Center for German Studies (CGS) an der Hebrew University in Jerusalem

„Israelis hatten und haben eine ambivalente Haltung gegenüber Deutschland: angesichts der Shoah, aber auch infolge des 1952 geschlossenen Reparationsabkommens als erste offizielle Erklärung der Verantwortung Deutschlands für die Shoah und Zeichen der Bereitschaft, dennoch zusammenzuarbeiten. Noch heute wird Deutschland in Israel sowohl mit Boykott als auch mit Partnerschaft begegnet, mit Ablehnung und Nähe, mit Misstrauen und Bewunderung. Im Jahr 2015 zeigten mehrere Umfragen, dass rund 70 Prozent der Israelis Deutschland positiv sehen. In Berlin leben heute zigtausend Israelis, und seit ein paar Jahren zählen sie auch zu den größten Touristengruppen in der deutschen Hauptstadt. Diese neue Sehnsucht nach Deutschland, besonders die Begeisterung für Berlin, wird in Israel in Verbindung gebracht mit der Protestbewegung aus dem Jahr 2011 gegen steigende Lebenshaltungskosten im eigenen Land – und mit der seitdem andauernden Dominanz nach rechts tendierender Politiker. So gesehen gibt es einen Zusammenhang zwischen der neuen Anziehungskraft Deutschlands und der Unzufriedenheit in Israel.

Nichtsdestotrotz gilt nach wie vor: Die für die deutsch-israelischen Beziehungen grundlegende Ambivalenz bleibt bestehen, sei es beim Blick auf Deutschlands Wirtschaftskraft und seine Rolle in der europäischen Politik oder auch angesichts seiner Migrations- und Sozialpolitik.“

FRANKREICH

Zentrenleiter Christophe Duhamelle

CIERA

Professor Christophe Duhamelle, Direktor des Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA) in Paris

„Die Einstellung zu Europa und Deutschland ist in Frankreich gespalten wie nie. Darin spiegeln sich auch vielfältige soziale, geografische und wirtschaftliche Spaltungen der französischen Gesellschaft, die Verlierer und Gewinner sowohl der Globalisierung als auch des Jahrzehnts seit der Finanzkrise von 2008 voneinander trennen. Dabei sind die politischen Frontstellungen nicht mehr so klar (und die „Merkel-Fixierung“ der Debatte nicht mehr so stark) wie früher. Die Situation bringt aber auch die Befürworter einer engeren europäischen Integration und einer verstärkten deutsch-französischen Zusammenarbeit dazu, das Errungene nicht mehr als selbstverständlich zu betrachten, sondern erneut dafür zu kämpfen.“

CHINA

Zentrenleiter Huang Liaoyu

privat

Professor Huang Liaoyu, Direktor des Zentrums für Deutschlandstudien (ZDS) an der Peking-Universität

„Die EU ist konfrontiert mit Problemen wie den Desintegrationstendenzen, der Flüchtlingskrise sowie der Kluft einerseits zwischen dem ,reichen Norden‘ und dem ,armen Süden‘ sowie andererseits zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten. Außerdem liegen ein geeintes Europa und ein starker Euro nicht unbedingt im Interesse der USA. Trump stellte schon fest: „Die Europäische Union ist ein Feind.“ Aber es ist derzeit nicht die EU, sondern China, dem nachgesagt wird, es laufe mit den USA in die Thukydides-Falle wie vor etwa 100 Jahren Deutschland mit England.

Deutschland hat das stärkste Interesse am Projekt Europa und besitzt sowohl den Willen zur Macht als auch die Führungskompetenz. Mit einem Europa unter der Führung von Deutschland käme China gut aus. Nur muss es Deutschland aus bekannten Gründen vermeiden, als ein Hegemon in Europa in Erscheinung zu treten. Freilich ist es denkbar, dass es mit Frankreich zusammen eine Art Doppelmonarchie bildet, in der Frankreich die Rolle des Ehrenkönigs übernimmt.“

BRASILIEN

Zentrenleiter Claudia Lima Marques

Gerardo Lazzari

Professor Claudia Lima Marques, Direktorin des Centro de Estudos Alemães e Europeus (CDEA) in Porto Alegre

„Die Brasilianer bewundern die Deutschen, was ihre Organisationsfähigkeit und Disziplin, ihre Planung und Ordnung anbelangt. Zudem wird Deutschland als ein ‚Bruderland‘ angesehen, da viele Deutschstämmige in Brasilien leben und es intensive Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern gibt − nicht nur in guten Zeiten, sondern auch in Zeiten der Krise. Deutschland und die Deutschen gelten als gute Freunde. Die dunkle Vergangenheit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland ist den Brasilianern durchaus bewusst, aber sie bewundern auch den Umgang mit dieser Vergangenheit und die deutsche Erinnerungskultur.

Und Europa? Europa steht für die Hauptwerte unserer Zivilisation. Ein Kontinent der Kultur und der Wissenschaft. Außerdem ist die Europäische Union ein Modell der kulturellen und ökonomischen Integration.“