Leibniz-Preis für DAAD-Alumnus: Professor Andreas Reckwitz im Porträt

DGF

„Bedeutende Segmente der Spätmoderne lassen sich von den Kriterien der Besonderheit und Einzigartigkeit, der ‚Individualität' leiten", sagt Professor Andreas Reckwitz

Eine wichtige Stimme in der aktuellen gesellschaftsdiagnostischen Debatte ist Andreas Reckwitz. Der Professor für Vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder erhält den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2019 für seine Analyse des Strukturwandels der Moderne. 

Andreas Reckwitz betrachtet den tiefgreifenden Strukturwandel in den westlichen Gesellschaften mit einer Herangehensweise, welche der Kultur als Schlüssel zum Verständnis der Entwicklungen einen neuen Stellenwert einräumt. Reckwitz studierte, promovierte und habilitierte sich an der Universität Hamburg zu dem Thema des „Hybriden Subjektes“. Damit verfolgte er die grundsätzliche Frage, wie sich die Definition des Individuums in der Kultur der Moderne vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart transformiert.

Mit dem 2017 bei Suhrkamp erschienenen, preisgekrönten und vielbeachteten Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ vertiefte er diese Untersuchung im Kontext der Entwicklung der Industriegesellschaft zu einer Wissens- und Kulturökonomie, in der es darum geht, „Singularitätskapital“ zu mehren.

Jeder soll einzigartig sein
Darunter versteht Reckwitz die Orientierung am Besonderen, am Singulären, die in der Gegenwartsgesellschaft fast schon obligatorisch sei. „Bedeutende Segmente der Spätmoderne lassen sich von den Kriterien der Besonderheit und Einzigartigkeit, der „Individualität“ leiten. Orte sollen identifizierbar, Dinge einzigartig, Ereignisse und Projekte sollen besondere Momente und sogar Kollektive eine Identitätsgemeinschaft wie Nation oder Region sein, die uns emotional ansprechen können“, sagt Reckwitz.

War die industrielle Moderne in vieler Hinsicht noch eine „Gesellschaft der Gleichen“, belohne und betone unsere Spätmoderne vielmehr das Singuläre. Über verschiedenste Verfahren soll Einzigartigkeit und Besonderheit herausgestellt werden, eines der wirkmächtigsten darunter ist die Digitalisierung. „Sie führt in vielerlei Hinsicht zu einer Erosion der allgemeinen Öffentlichkeit und zur Entstehung vieler Partikularöffentlichkeiten“, so Reckwitz.

Schon immer hatte den Frankfurter Wissenschaftler die Theorie der Moderne interessiert, wie Gesellschaft durch Individuen hindurch wirkt. „Nach ‚Das hybride Subjekt‘ hat sich mein Forschungsinteresse aber fortentwickelt, in Richtung von veränderten Formen des Sozialen, wie ich sie in ‚Die Erfindung der Kreativität‘ und ‚Die Gesellschaft der Singularitäten‘ untersucht habe.“

Kreativität wird zur Norm        
Denn einhergehend mit dem Wandel zur Gesellschaft der Singularitäten werde, so Reckwitz, die Kreativität zur Norm. Wurden Kreativität und Originalität lange zwar vom Künstler erwartet, nicht aber vom Gros der sich industrialisierenden Gesellschaft, sei das heute anders: „Man sieht dies in der Ökonomie, in der, ausgehend von den ‚creative industries‘, an die Produkterzeugung der Maßstab der Kreativität gelegt wird, Stichwort ‚design thinking‘.“

Auch die psychologische Persönlichkeitsberatung sei ein gutes Beispiel, so Reckwitz. „Hier wird dem Individuum nahegelegt, all seine Potenziale zu entfalten, sich auszuprobieren und so weiter. Auf dieser Grundlage scheint es den Individuen, vor allem in der gebildeten neuen Mittelklasse, mittlerweile selbstverständlich, die Norm des Kreativen an das eigene Leben anzulegen.“ In diesen Kreisen erwarte man von sich selbst, dass man sich verändert, nicht gleich bleibt. Freiwillige, selbst gewollte Unkreativität erscheine vor diesem Hintergrund heutzutage wie ein absurder Wunsch.

Andreas Reckwitz‘ Perspektive auf das Soziale wurde wesentlich beeinflusst von dem französischen Soziologen Bruno Latour, der im Jahr 2000 in Berkeley Vorlesungen hielt und den er dort als DAAD-Postdoc-Stipendiat kennenlernte. Ein günstiger Zufall, sagt er: „Wie so häufig habe ich am meisten dort gelernt, wo ich es nicht gar nicht planen konnte.“

Entwurf einer neuen Gesellschaftstheorie
Zu Hause in Deutschland blieb Andreas Reckwitz der Europa-Universität treu. Rufen der Universität Mainz und der TU Dresden folgte er nicht. In Frankfurt an der Oder entwickelte Reckwitz neue Erklärmodelle, eine Gesellschaftstheorie der Spätmoderne ist sein Ziel.

Wegweisend dafür sei das Entstehen neuer Klassenverhältnisse, für die die Spaltung zwischen neuer und alter Mittelklasse von besonderer Bedeutung ist. „Singularisierungsprozesse münden regelmäßig in Gewinner-Verlierer-Konstellationen und damit in gesellschaftlicher Polarisierung", sagt Reckwitz. Eine neue, stark vom Kosmopolitismus geprägte Mittelschicht stehe jetzt einer eher absteigenden neuen Unterklasse gegenüber, dazwischen gebe es noch so etwas wie einen alten Mittelstand.   

Mit den Analysen dieser Konfliktlinien unter Zuhilfenahme der Kultursoziologie gibt Andreas Reckwitz einen wichtigen Impuls in vielen gegenwärtigen gesellschaftstheoretischen Diskussionen.

Torben Dietrich (14. März 2019)

Zur Person

Andreas Reckwitz, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder

Forschungsfeld: Vergleichende Kultursoziologie
Leibniz-Preis für: detaillierte Analysen des Strukturwandels moderner westlicher Gesellschaften und Entwicklung einer neuen Theorie sozialer Klassen
Stationen: Universität Hamburg, Universität Konstanz, Viadrina Frankfurt an der Oder

Weitere Informationen

Der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ist der wichtigste Forschungsförderpreis in Deutschland und wird jährlich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) auf Vorschlag Dritter vergeben. Die Preisträger erhalten die Möglichkeit, ihre Forschung zu erweitern, zu intensivieren und besonders begabte Nachwuchswissenschaftler zu beschäftigen. Der Leibniz-Preis ist mit bis zu 2,5 Millionen Euro pro Preisträger dotiert.