Europa am Scheideweg
Anika Büssemeier
„Der Austausch im Bereich Bildung und Forschung ist wichtig für die deutsch-französische Freundschaft", so Anne-Marie Descôtes
Wir freuen uns, dass Anne-Marie Descôtes, Frankreichs Botschafterin in Deutschland und DAAD-Alumna, exklusiv mit dem DAAD über die Bedeutung der Europawahl im Mai und die Zukunft des europäischen Hochschulaustauschs spricht.
Exzellenz, Deutschland und Frankreich haben Anfang 2019 den „Vertrag von Aachen“ unterzeichnet. Mit welchen Gedanken haben Sie dieses Ereignis begleitet?
Der Vertrag von Aachen ist ein deutsch-französischer Freundschafts- und Kooperationsvertrag. Er ist als Ergänzung des Élysée-Vertrags aus dem Jahr 1963 zu verstehen, der den Grundstein für die deutsch-französische Aussöhnung legte. Nun ist es notwendig, weiter auf eine Annäherung hinzuarbeiten.
Der Aachener Vertrag passt unsere Zusammenarbeit an die Herausforderungen des
21. Jahrhunderts an und stellt sie in den Dienst der Vertiefung der europäischen Integration. Denn er schafft einen offenen Rahmen, um das europäische Projekt zu unterstützen, und nicht, um einen alleinigen Dialog zwischen Paris und Berlin zu führen. Der Aachener Vertrag beruht auf den Prinzipien, die der deutsch-französischen Zusammenarbeit zugrunde liegen, sowie auf sehr konkreten Projekten. Er zeigt, dass unsere beiden Länder gemeinsam die Zukunft gestalten wollen, und wir gehen diese Aufgabe mit großer Begeisterung und Energie an.
Welche neuen Perspektiven eröffnet der Vertrag für beide Länder?
Der Aachener Vertrag hat uns neue Instrumente und neue Instanzen an die Hand gegeben. Zum Beispiel was die Gestaltung der Zusammenarbeit mit den Grenzregionen betrifft oder um die Rolle der Zivilgesellschaft zu stärken. Dies alles betrifft die Ebene der Exekutive. Zusätzlich zu dem Vertrag wurde eine interparlamentarische Vereinbarung zwischen der französischen Nationalversammlung und dem deutschen Bundestag verabschiedet, die eine Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung ins Leben ruft. Das ist wirklich etwas Neues und es zeigt, dass sich die Legislative voll und ganz einbringen möchte.
Das Ziel des Vertrags besteht darin, die Rechtsrahmen, Wirtschaften, Gesellschaften und Zivilgesellschaften unserer beiden Länder einander anzunähern und enger auf europäischer Ebene miteinander zu kooperieren, sodass unsere neue Zusammenarbeit stets im Dienste Europas steht.
Zudem wurde mit dem Aachener Vertrag eine Liste mit 15 konkreten Projekten ausgearbeitet, die so schnell wie möglich umgesetzt werden sollen – beispielsweise grenzüberschreitende Bahnverbindungen. Es geht auch darum, das Erlernen der Sprache des jeweiligen Partners zu unterstützen oder die Anerkennung von Abschlüssen zu fördern.
Schließlich kann diese Neubegründung Europas nicht allein von den Regierungen und Staatschefs auf den Weg gebracht werden, wir brauchen die Unterstützung der europäischen Bevölkerung. Deshalb widmet sich ein sehr bedeutender Teil des Aachener Vertrags der Zivilgesellschaft sowie den Partizipationsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger beider Länder.
Der Austausch in Bildung und Forschung spielt seit jeher eine wichtige Rolle für die deutsch-französische Freundschaft. Wie könnte er sich in Zukunft weiter positiv entwickeln?
In Deutschland gibt es fast 220 deutsch-französische Doppeldiplome, zwei Drittel davon an der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH) in Saarbrücken. 8.500 Französinnen und Franzosen studieren in Deutschland und 8.790 Deutsche in Frankreich. Überdies war Deutschland 2018 mit 5.881 Studierenden das Herkunftsland Nummer eins von Erasmus-Studierenden in Frankreich. Für Deutschland ist Frankreich das zweitgrößte Gastland für Erasmus-Studierende. Daher liegt uns der Austausch im Bereich Bildung und Forschung sehr am Herzen.
In Zukunft wollen wir diesen Austausch noch weiter stärken. Seit 1997 besteht die DFH, die die Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich im Hochschulbereich zum Ziel hat, hauptsächlich durch die Förderung von Mobilität. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, Doppeldiplom-Studiengänge zu schaffen. Sie fördert deshalb die Beziehungen und den Austausch zwischen deutschen und französischen Hochschulen, binationale Aktivitäten und Projekte in Lehre, Erstausbildung und Weiterbildung sowie Forschung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Im Rahmen des Aachener Vertrags haben sich beide Länder dazu verpflichtet, diese Zusammenarbeit fortzuführen, denn die Austausche in den Bereichen Forschung und Hochschule sind entscheidende Zukunftsbereiche. Die DFH wird eine führende Rolle bei der Einrichtung der Europäischen Hochschulen spielen, da sie über eine einzigartige Expertise bei der Schaffung von Doppeldiplomen verfügt.
Damit sich die Beziehungen auch weiterhin positiv entwickeln, ist es besonders wichtig, dass nicht nur Studierende einen Zugang zur Mobilität haben. Aus diesem Grund engagieren sich unsere Länder sehr stark dafür, auch Auszubildenden Mobilität zu ermöglichen.
Wie wichtig ist dabei das gegenseitige Erlernen der Sprache? Man hört immer wieder, dass in Frankreich weniger Deutsch, in Deutschland weniger Französisch gelernt wird als früher …
Staatspräsident Emmanuel Macron hat es bereits am 22. Januar richtig betont: „Es gibt Worte, die man nicht begreift, die man nicht übersetzen kann. Aber jeder unserer Schritte sorgt für ein Stück weniger Unübersetzbarkeit […], denn auch das Unverständliche bringt uns einander näher.“ Es geht nämlich nicht nur um Sprache, sondern auch um die gegenseitige Verständigung und Freundschaft.
Es stimmt, dass die Zahl der Französischlernenden in Deutschland zurückgegangen ist. Mittelfristig sind wir außerdem mit einem Rückgang der Anzahl an Französischlehrern konfrontiert. Daher sind Maßnahmen zur Förderung der französischen Sprache besonders wichtig. Auf Hochschulebene zeigt sich momentan eine neue Dynamik mit den Aktivitäten der „Pôles France“ („Frankreichzentren“). Diese Einrichtungen entstehen auf Initiative deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, von Romanistinnen und Romanisten sowie französischen Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern direkt an den Hochschulen. Die Themen sind breit gefächert und multidisziplinär. Das gemeinsame Ziel besteht darin, das Netzwerk der vielfältigen persönlichen und institutionellen Kontakte mit Frankreich und den französischsprachigen Hochschulen in den drei Säulen der Hochschultätigkeit zu beleben: Lehre, Forschung und Innovation.
Im Zusammenhang mit der Umsetzung des Aachener Vertrags ist es wichtig, die Aktivitäten dieser „Pôles France“ zu fördern und zu unterstützen, da sie sehr nah an den Studierenden sind. Wir unterstützen die Zentren bei ihrer Arbeit, bei der Vernetzung untereinander und bei ihren Kontakten zu Frankreich.
Schließlich fördern wir auch Initiativen, die es Kindern ermöglichen, früh die französische Sprache zu entdecken. Genau darin besteht beispielsweise das Ziel der französischen Kitas, die in einigen Bundesländern, zum Beispiel in Bayern, angeboten werden.
Präsident Macron hat die Idee der Europäischen Universitäten aufgebracht. Warum sind diese Einrichtungen wichtig?
Das Projekt der Europäischen Hochschulen hat großes Interesse und Bemühungen ausgelöst, um die Hochschulen Frankreichs, Deutschlands und anderer EU-Mitgliedsstaaten einander näherzubringen sowie gemeinsame Studienangebote und strategische Hochschulallianzen hervorzubringen.
In Antwort auf die Sorbonne-Rede von Präsident Macron forderte der Europäische Rat am 14. Dezember 2017 die „Stärkung strategischer Partnerschaften zwischen Hochschuleinrichtungen in der gesamten EU und die Förderung der Herausbildung von etwa zwanzig Europäischen Hochschulen bis 2024, bestehend aus nach dem Bottom-up-Prinzip errichteten Hochschulnetzwerken in der gesamten EU, die es Studierenden ermöglichen, durch eine Kombination von Studien in mehreren EU-Ländern einen Studienabschluss zu erwerben, und somit zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Hochschulen beitragen“.
Die Antragsfrist des Erasmus+ Programmaufrufs 2019 endete am 28. Februar 2019. Die nächste Pilotausschreibung wird für das Frühjahr 2020 erwartet.
Eine Europäische Hochschule wird ein Netzwerk von drei bis sechs Hochschulen aus mindestens drei Ländern mit einer Erasmus+ Charta formen, die in engen und strategischen Partnerschaften zwischen den Mitgliedern des Netzwerks agieren.
Besonders wichtig ist die Verwirklichung eines Europäischen Hochschul- und Forschungsraums, die Stärkung von Exzellenz und die Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen wie Klimawandel, Künstlicher Intelligenz oder Sicherheit. Es ist Aufgabe der Hochschulen, als Innovationsträger zu diesen Herausforderungen beizutragen. Ziel ist es, die Europäer einander näherzubringen und die Qualität sowie Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Hochschulbildung zu verbessern – mit innovativer Pädagogik, gemeinsamen Diplomen, Mobilitätsangeboten und einer langfristigen gemeinsamen Perspektive. Mithilfe von Europäischen Hochschulen können wir die Europäerinnen und Europäer von morgen ausbilden und die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Raums steigern. Auch die Zusammenarbeit mit Unternehmen, Regionen und Forschungseinrichtungen ist dabei ausschlaggebend.
In diesen Tagen hat es die europäische Idee nicht immer leicht. Wie wichtig ist die Europawahl im Mai?
Wichtiger denn je. Europa steht an einem Scheideweg. Es ist unbestreitbar, dass wir zahlreiche Herausforderungen überwinden müssen, die eine gemeinsame europäische Antwort erfordern. Zur EU gibt es keine Alternative, daher geht es darum, wie die Mitgliedsstaaten ihre Ziele und Visionen für Europa gemeinsam voranbringen können. Viele Menschen zweifeln an der Fähigkeit der EU, Antworten auf ihre Sorgen zu geben. Deshalb muss die Reform der EU zuerst den Menschen zugutekommen. Wir wollen ihnen zeigen, dass Europa sie schützt, sowohl vor Sicherheitsbedrohungen als auch vor feindlichen ausländischen Investitionen, und ihnen einen Raum des Wohlstands garantiert, in dem die Regeln fair und förderlich für eine nachhaltige Entwicklung sind.
Die Wahl ist darüber hinaus eine Gelegenheit, daran zu erinnern, welche Möglichkeiten Europa für uns bereithält – wie die Europäischen Hochschulen oder Erasmus+. Schließlich ist es auch wichtig, für eine hohe Wahlbeteiligung der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu sorgen, um die Legitimität der EU zu gewährleisten.
Was könnte aus Ihrer Sicht der europäischen Idee frische Impulse geben?
Die Europäische Union erhält heftige Kritik, es gibt zahlreiche Missverständnisse – der Brexit ist die extremste Form davon, da zum ersten Mal seit ihrer Gründung ein Land aus der EU austritt.
Wie die Wahlen in mehreren Mitgliedsstaaten seit 2000 zeigen, ist Unzufriedenheit jedoch weit verbreitet. Diese Wut muss gehört und beantwortet werden, indem gezeigt wird, dass die EU die einzige kohärente Antwort auf die Erwartungen der Menschen an Schutz, Freiheit und Zukunftsentwicklung in einem sich verändernden und besorgniserregenden Umfeld ist. Präsident Macron hat es bereits formuliert: „Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig.“
Der Brexit hat uns gezeigt, dass Europa sich reformieren muss. Überall in Europa wächst eine Wut, auf die wir reagieren müssen, was weder eine Ablehnung ohne Projekt noch der Status quo sein kann.
Das Wiederaufleben der europäischen Idee kann um drei Achsen gestaltet werden: die Verteidigung unserer Freiheit, den Schutz unseres Kontinents und den Geist des Fortschritts, den wir wieder lebendig machen müssen. Unsere Freiheit kann durch Maßnahmen zum Schutz der Demokratie und das Verbannen von Hass aus dem Internet verteidigt werden. Zum Schutz unseres Kontinents müssen wir den Schengen-Raum überdenken, einen Europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsvertrag schließen und fairen Wettbewerb gewährleisten.
Schließlich sollten wir den Geist des Fortschritts in Europa wiederbeleben: etwa durch die Einrichtung eines gemeinsamen „sozialen Schutzschilds“, weitreichendere Verpflichtungen für Klima und Gesundheit und die Wiedererlangung der Innovationskraft in der EU.
Um diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen, hoffen wir, gemeinsam mit Deutschland innovative Wege zu finden, um diese Impulse für Europa so bald wie möglich umzusetzen. Um eine europaweite Debatte zur Zukunft der EU anzuregen, hatte Präsident Macron die Idee, sich an die Bürgerinnen und Bürger der 28 Mitgliedsstaaten in den 24 offiziellen Sprachen der EU zu wenden und sie um ihre Vorschläge für ein besseres Europa zu bitten.
Deutschland und Frankreich werden immer wieder als „Motor Europas“ bezeichnet. Wie können die Länder dieser Rolle heute am besten gerecht werden?
Deutschland und Frankreich sollten mit neuem Elan wieder Verantwortung innerhalb der EU übernehmen. Man darf nicht vergessen, dass Europa ein ehrgeiziges politisches Friedensprojekt für den Kontinent ist. Es konnte nur aus dem Willen Frankreichs und Deutschlands entstehen, sich zu versöhnen, indem sie ihre Wirtschaft und Gesellschaft einander näherbrachten. Heute sind Frankreich und Deutschland (aufgrund des Brexits) die beiden Mitgliedsstaaten mit dem größten wirtschaftlichen und demografischen Gewicht. Ohne den gemeinsamen Willen voranzukommen, kann also nichts getan werden, es ist eine konstitutive Realität der Europäischen Union. Unsere Ansätze sind oft unterschiedlich, und wenn es keine Ansätze einer Einigung zwischen uns gibt, ist es schwierig, das gesamte Haus Europa voranzubringen. Aber das bedeutet nicht, dass wir alleine entscheiden. Andere müssen um das gemeinsame Projekt herum zusammengeführt werden, wobei ihre Wünsche zu berücksichtigen sind.
Diese Verantwortung Deutschlands und Frankreichs ist sowohl historisch motiviert als auch zukunftsorientiert ausgerichtet. Die Aussöhnung unserer beiden Länder war ein starkes Zeichen für unser Engagement für Frieden und Demokratie. Und die Zusammenarbeit dient dem Wohle Europas: einem souveränen, geeinten sowie demokratischen Europa.
Beide Länder vertreten nicht immer die gleichen Ansichten, aber genau darin besteht die Kraft unserer Zusammenarbeit: Sie beide fördern europäische Debatten und suchen nach Kompromissen.
Außerdem engagiert sich Präsident Macron sehr stark für die Förderung einer Debatte auf europäischer Ebene, zum Beispiel durch seinen Vorschlag, europäische Wahllisten für die Europawahl einzuführen. Darin bestand auch das Ziel der Bürgerdialoge, die letztes Jahr geführt wurden und die alle Europäer dazu aufriefen, sich zur Zukunft Europas zu äußern.
Aber die Triebkraft Europas hängt wesentlich auch von den Bürgerinnen und Bürgern ab, die sich an der europäischen Debatte beteiligen – im Rahmen der europäischen Bürgerdialoge oder durch die Teilnahme an der Europawahl im Mai.
Sie selbst haben in Deutschland studiert. Wie wichtig war dieser Aufenthalt im Ausland für Ihren weiteren Werdegang?
Als Germanistin war es selbstverständlich, dass ich einen einjährigen Aufenthalt an einer Universität im deutschsprachigen Raum absolvieren sollte. Ich hatte schon als Schülerin den Taunus in Hessen kennengelernt. Also wollte ich etwas anderes entdecken. So wählte ich Hamburg. Später führte mich mein Weg noch an die Freie Universität Berlin. Somit hatte ich schon einen Einblick in sehr verschiedene Regionen Deutschlands. Mein dreijähriger Aufenthalt in Bonn als Kulturattachée an der französischen Botschaft öffnete mir den Weg zur Diplomatie. Der Fall der Mauer, den ich während dieser Zeit direkt miterleben durfte, hat dabei eine große Rolle gespielt. Diese verschiedenen Aufenthalte zwischen 1980 und 1990 erlauben mir heute, die Entwicklung in Deutschland besser wahrzunehmen und einzuschätzen. Insofern waren die Aufenthalte für mein heutiges Amt von besonderer Bedeutung.
Interview: Janet Schayan (12. April 2019)
Vita Anne-Marie Descôtes
Anne-Marie Descôtes ist seit Juni 2017 Botschafterin Frankreichs in Deutschland. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte, unter anderem mit einem DAAD-Stipendium in Berlin, und absolvierte die École normale supérieure und die École nationale d’administration. Anschließend war sie als Kulturattachée in Bonn tätig und arbeitete in dieser Zeit bereits eng mit dem DAAD zusammen. Auch nach ihrer Berufung ins französische Außenministerium setzte sie sich für die deutsch-französischen Beziehungen und für die Zusammenarbeit beider Länder in der Bildung ein.