Was uns Humboldt bedeutet
ullstein Bild Dtl./Getty Images, Royal Geographic Society/ Getty Images
Zu seinem 250. Geburtstag steht Alexander von Humboldt im Mittelpunkt der für 2019 vom Auswärtigen Amt ausgerufenen Themensaison „Humboldt y las Américas“
Was verbinden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute mit Humboldt? Spannende Antworten von fünf Forschenden, die sich stark im Austausch zwischen Deutschland und Lateinamerika engagieren.
WISSENSCHAFT MUSS VERSTÄNDLICH SEIN
„Humboldt hat es uns vorgelebt: Wir Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen agieren nicht in einem Paralleluniversum, geschweige denn in einem Elfenbeinturm. Wir müssen uns der Gesellschaft, der Politik und der Wirtschaft gegenüber verständlich machen. Diesen Wissenstransfer verstehe auch ich als wichtige Aufgabe: Forschung, vor allem wenn sie vom Staat finanziert wird, muss auch konkrete Lösungen für gesellschaftliche Probleme bereitstellen. Und wir müssen unsere Ergebnisse so aufarbeiten, dass interessierte Bürgerinnen und Bürger an unseren Erkenntnissen teilhaben können. Ganz im Sinne Humboldts legt die Justus-Liebig-Universität Gießen großen Wert auf internationale Forschungskooperationen – in der ganzen Welt und speziell in Kolumbien. Wir koordinieren dort die beiden Leuchtturmprojekte der deutsch-kolumbianischen Wissenschaftszusammenarbeit, die vom DAAD gefördert werden. Zum einen engagieren wir uns seit den 1960er-Jahren für die Meereswissenschaft und leiten seit 2009 das vom DAAD geförderte Corporation Center of Excellence in Marine Sciences (CEMarin). Zum anderen begleiten wir mit dem Friedensinstitut CAPAZ den kolumbianischen Friedensprozess wissenschaftlich. In beiden Projekten zeigen wir, dass kolumbianische Universitäten starke Partner mit großem Potenzial sind. Und wir bringen Deutschlands Interesse an der friedvollen Zukunft Kolumbiens zum Ausdruck."
Prof. Dr. Joybrato Mukherjee, DAAD-Vizepräsident und Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
DEN AUSTAUSCH LEBENDIG HALTEN
„Das Colegio de México hat viele internationale Kooperationen. Die neueste ist ein zweites Graduiertenkolleg mit dem Titel Temporalities of Future. Gemeinsam mit dem Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin erlaubt es einen regelmäßigen Austausch von Studierenden und Lehrenden. Der Wilhelm und Alexander von Humboldt-Lehrstuhl, den ich 2018 übernommen habe, trägt zu diesem intensiven Wissensaustausch bei. Er will eine Brücke zwischen deutscher und mexikanischer Wissenschaft schlagen. Als ich die Leitung des Lehrstuhls übernahm, flößte mir die Liste meiner Vorgänger viel Respekt ein: Professor Günther Maihold, Professor Walther L. Bernecker und viele andere große Namen. Ich glaube, dass ich als jüngere Wissenschaftlerin auch viel Neues mitbringe. Ich bin die erste Frau, die diesen Lehrstuhl leitet, und Historikerin für Deutschland und Europa. Ich werde meine eigenen Schwerpunkte setzen. Wir wollen vor allem deutsche Geschichte, Politik und Kultur in Mexiko vermitteln. In diesem Jahr werden Forschende aus Lateinamerika, den USA, Europa und Deutschland zu Konferenzen, Workshops und Vorlesungsreihen zu uns kommen, um diesen Austausch zu stärken und vital zu halten. Wir leben ihn global – ganz im Sinne Alexander von Humboldts."
Dr. Marion Röwekamp, Inhaberin des vom DAAD geförderten Wilhelm und Alexander von Humboldt-Lehrstuhls am Colegio de México, Habilitandin am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin und DAAD-Alumna
NETZWERKE STÄRKEN DIE FORSCHUNG
„Alexander von Humboldt leistete einen großen Beitrag zur Entwicklung der Wissenschaft in Kolumbien. Seine Reise durch das Land hinterließ einen bleibenden Eindruck bei jungen Forschenden. Wie er bin ich der Meinung, eine umfassende akademische Ausbildung wird erst durch internationale Erfahrungen, das Erlernen einer Fremdsprache und den Kontakt zu anderen Kulturen möglich. Aus diesem Austausch entstehen Netzwerke und Vertrauen – wichtige Grundlagen für Kooperationsprogramme und gemeinsame Forschungsprojekte. Bis vor Kurzem war wissenschaftlicher Austausch oft noch eine Einbahnstraße: Kolumbianer haben in Deutschland studiert und promoviert. Heute ist ein gegenseitiger Austausch möglich und wichtig. Kolumbien bietet exzellente Forschungsmöglichkeiten in Bereichen wie Medizin, Ingenieurwissenschaften und Biologie. Ich habe an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Mathematik studiert. Eine Rückkehr nach Kolumbien im Anschluss an die Promotion war für meine Generation aber selbstverständlich. Es war unsere Pflicht, etwas zur Bildung der nächsten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in unseren Spezialgebieten beizutragen. Die Auszeichnung 2015 mit dem Bundesverdienstkreuz hat mich noch stärker dazu verpflichtet, die Verbindung zwischen Kolumbien und Deutschland zu stärken.“
Prof. Dr. Ignacio Mantilla, ehemaliger Rektor der Universidad Nacional de Colombia in Bogotá und DAAD-Alumnus
ALLES HÄNGT ZUSAMMEN, ALLES IST TEIL DES SYSTEMS
„Wir können von Alexander von Humboldt lernen, dass wir die exakten Wissenschaften nicht komplett von den Sozialwissenschaften und den Künsten trennen dürfen. Wir müssen den Zusammenhang der Fächer betrachten, sie müssen sich ergänzen. Nur durch diesen interdisziplinären Ansatz erhalten wir in unserer Forschung weitreichende Ergebnisse. Der globale Wissensaustausch hat an der Universidad Autónoma de San Luis Potosí in Mexiko einen hohen Stellenwert. Durch ihn können wir schnell neue, effektive Methoden identifizieren. Aus meiner geowissenschaftlichen Perspektive hat uns Alexander von Humboldt aber vor allem eines gezeigt: Die Erde ist ein zusammenhängendes System. Die Störung einer ihrer Komponenten verändert die Funktionalität des Ganzen. Wir können das aktuell leider überall beobachten. Die Wissenschaft steht in Bezug auf den Umweltschutz weltweit vor großen Herausforderungen. Wir müssen die natürlichen Prozesse der Erde schützen, um auch Probleme wie Hunger, Armut und Krankheiten zu lösen. Alles hängt mit allem zusammen, und alles ist Teil des Systems.“
Dr. Sonia Alejandra Torres Sánchez, Geowissenschaftlerin an der Universidad Autónoma de San Luis Potosí in Mexiko und Young Ambassador des DAAD in Mexiko
MEHR NETZWERKDENKEN ERWÜNSCHT
„Humboldt war ein Abenteurer, ein Reisender, ein atemloser Sammler, der gleichzeitig nie seinen romantischen Blick verloren hat. Wenn er heute nach Lateinamerika käme, stünden ihm wahrscheinlich oft die Haare zu Berge angesichts der Umweltkonflikte auf dem Kontinent. Vielleicht würde er sein Augenmerk zunehmend auf die Erforschung von sozialen Faktoren richten. Denn Humboldts Erbe ist nicht das eines revolutionären Entdeckers. Es zeichnet sich vor allem durch die Art und Weise aus, wie er die Natur beobachtet hat. Geprägt hat uns seine Erkenntnis, dass alles miteinander vernetzt ist. Ganz nach Humboldts Prinzipien ist es auch in meinem Fachgebiet, der molekularen Neurowissenschaft, wichtig, Verbindungen mit anderen Disziplinen herzustellen, um konkrete Lösungen für Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson zu finden. So sehr die Vision Humboldts die Wissenschaft in Lateinamerika prägte, so sehr fehlt hier heute ein Netzwerkdenken auf institutioneller Ebene. Es gibt viele gute Forschende, aber wenig Infrastruktur für Spitzenforschung. Würde Humboldt heute noch einmal durch Lateinamerika reisen, könnte er vielleicht die Regierungen davon überzeugen, die Forschung stärker zu unterstützen.“
Prof. Dr. Francisco J. Barrantes, Leiter des Labors für Molekulare Neurobiologie an der Fakultät der Medizinischen Wissenschaften der Universidad Católica Argentina (UCA), Buenos Aires, DAAD-Alumnus und Präsident der Alumni-Vereinigung der Humboldt-Stiftung in Argentinien
Protokolle: Christina Iglhaut (10. Mai 2019)
Die Stellungnahmen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind zuerst im DAAD-Magazin LETTER auf Deutsch und Englisch erschienen.
DAAD-ALUMNITREFFEN IN KOLUMBIEN VOM 10. BIS 12. MAI
„Kosmos oder Chaos? Wissenschaftliche Weltbeschreibungen heute" – unter diesem Titel versammeln sich vom 10. bis 12. Mai DAAD-Alumni aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá für ein regionales Alumni-Treffen. Leitthema der Veranstaltung ist Alexander Humboldts Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft. Anlässlich des 250. Geburtstags des berühmten Naturforschers und Humanisten wird im Rahmen einer Podiumsdiskussion beispielsweise die Frage „Was würde Humboldt heute erforschen?" beleuchtet. Die anschließenden interdisziplinären Workshops behandeln Themen der Friedensforschung, der gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft oder die Chancen und Risiken der Digitalisierung.