„Ein Anreiz für mehr Freiheit“

FAU/Pöhlein

Konzentriert ihre Forschung auf akademische Freiheit und die Volksrepublik China: Dr. Katrin Kinzelbach, Professorin für Internationale Politik der Menschenrechte an der FAU Erlangen-Nürnberg.

Prof. Dr. Katrin Kinzelbach von der FAU Erlangen-Nürnberg hat mit einem internationalen Forscherteam den bislang umfassendsten Datensatz zur Wissenschaftsfreiheit weltweit erhoben. In dem Bericht Free Universities führen sie und das Team auch einen neuen Index zur Wissenschaftsfreiheit ein, den „Academic Freedom Index“ (AFi). Die Politikwissenschaftlerin erklärt im Interview, wie es zu der Untersuchung kam, welche Ergebnisse sie überrascht haben und wie die Erkenntnisse genutzt werden können.

Was war der Anlass für die Entwicklung des „Academic Freedom Index“ (AFi)?
Nachdem sich vor einigen Jahren die Voraussetzungen für freie Forschung in Ungarn und in der Türkei massiv verschlechtert hatten, war die Wissenschaftsfreiheit als Thema in hochschulpolitischen Debatten sehr präsent. Ich habe das auch als Gastprofessorin an der Central European University (CEU) mitverfolgt. Die Beschäftigung mit Hochschulrankings gab mir einen weiteren Impuls, denn ich stellte fest, dass die Wissenschaftsfreiheit im Reputationswettbewerb zwischen Universitäten bisher gar keine Rolle spielt. Der hochschulpolitische Kontext war also mit ausschlaggebend, aber ich hatte vor allem auch ein empirisches Interesse: Wie frei ist die Wissenschaft? Das wollte ich wissen. In der politikwissenschaftlichen Menschenrechts- und Repressionsforschung wird schon lange an internationalen Datensätzen zu Eingriffen in die Freiheit gearbeitet, aber zur Wissenschaftsfreiheit fehlte bisher eine systematische Erhebung. Vor unserem Index gab es Ereignisdaten zur Inhaftierung einzelner Wissenschaftler, zu erzwungenem Exil etc. Solche Ereignisdaten eignen sich jedoch nicht besonders gut für länderübergreifende Vergleiche oder die Analyse von Entwicklungen im Laufe der Zeit, denn es gibt ein großes Problem mit Informationsverzerrungen. Außerdem umfasst die Wissenschaftsfreiheit nicht nur individuelle Rechte, sie schützt auch den kollektiven Forschungsprozess. Über die weltweite Einhaltung der Wissenschaftsfreiheit hatten wir bisher keine verlässlichen Daten.

Wie wurden die Daten für den AFi genau erhoben?
Wir haben zunächst mit einer internationalen Fachrunde verschiedene Datenerhebungsmethoden diskutiert und uns nach ausführlicher Abwägung der jeweiligen Vor- und Nachteile für die Erhebung von Experteneinschätzungen entschieden. Danach hatten wir unheimliches Glück, dass sich das V-Dem-Institut an der Universität Göteborg bereiterklärt hat, unsere Indikatoren in ihre jährliche Erhebung zu über 450 Indikatoren aufzunehmen. V-Dem arbeitet mit einem preisgekrönten, auf Bayes-Statistik beruhendem Modell, mit dem Experteneinschätzungen sinnvoll aggregiert werden können. So konnten wir eine sehr große und wissenschaftlich fundierte Datenerhebung realisieren. Am AFi haben bisher 1.810 Akademikerinnen und Akademiker aus aller Welt mitgewirkt, die Einschätzungen zu fünf Indikatoren geliefert haben, und zwar für den Zeitraum 1900 bis 2019. Kolleginnen am Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin haben außerdem Daten zur Existenz von Universitäten und zu internationalen Rechtsverpflichtungen von UN-Mitgliedstaaten zusammengetragen. Im Rahmen des Comparative Constitutions Project der Universitäten Texas und Chicago wurden nationale Verfassungen kodiert. Der komplette Datensatz ist öffentlich zugänglich und ein Visualisierungstool stellt die Ergebnisse anschaulich dar.

Inwiefern wurde bei der Erhebung dem möglichen Vorwurf vorgebeugt, der AFi konzentriere sich lediglich auf die westliche Sicht auf die Wissenschaftsfreiheit?
Was ist die westliche Sicht auf Wissenschaftsfreiheit? Die Sicht von Viktor Orbán oder Donald Trump? Aus meiner Sicht gibt es keine genuin „westliche“ Sicht auf die Wissenschaftsfreiheit, wohl aber eine liberale und eine illiberale Sicht. Wer Wissenschaftsfreiheit als westliches Konstrukt angreift, macht dies aus politischen Gründen, um ein Feindbild aufzubauen. Als analytische Kategorie vernebelt der Begriff des „Westens“ mehr als er erklären kann. Auch im sogenannten „Westen“ gibt es Gegner der Wissenschaftsfreiheit. Und sobald man das Argument konkretisiert, wird es absurd beziehungsweise sogar rassistisch: Wer würde behaupten, dass im Kampf gegen Covid-19 deutsche Virologinnen und Virologen mehr Wissenschaftsfreiheit verdient hätten als chinesische? Natürlich ist es auch nicht so, dass chinesische Forschende mit weniger Freiheit zufrieden sind. In der Volksrepublik China, wo ich zwei Jahre gelebt habe, ist es schlicht und ergreifend viel gefährlicher als in Deutschland, die Wissenschaftsfreiheit explizit einzufordern oder sie sich bei politisch heiklen Themen zu nehmen. Der AFi beruht auf der Prämisse der Universalität: Alle Forscher haben ein Recht auf Wissenschaftsfreiheit, und alle Länder werden an denselben Indikatoren gemessen. Übrigens haben von 193 UN-Mitgliedsstaaten 170 den UN-Sozialpakt ratifiziert und sich damit rechtlich verbindlich zum Schutz der Wissenschaftsfreiheit verpflichtet. Dies gilt auch für die Volksrepublik China. Am AFi haben 1.810 Experten aus aller Welt mitgewirkt, es ist ein internationales Projekt. Und ich bin sehr dankbar, während der Konzeptualisierung der Indikatoren Feedback von Kolleginnen und Kollegen aus allen Kontinenten und unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen erhalten zu haben. Jetzt sind die Daten öffentlich zugänglich und ich lade alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein – egal, woher sie kommen – sich kritisch mit dem AFi auseinanderzusetzen und Vorschläge für Verbesserungen zu machen. 

"Ein Anreiz für mehr Freiheit"

GPPi/TAU

Die Entwicklung von Komponenten der Wissenschaftsfreiheit im weltweiten Durchschnitt, 1900-2019. Die Y-Achse zeigt einen Ausschnitt der Skala 0–4. 

Der AFi-Bericht erhebt Daten zur Wissenschaftsfreiheit in 158 Ländern. Wo lagen aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen hinsichtlich der Datensammlung bzw. Vergleichbarkeit der Daten?
Die Verlässlichkeit der AFi-Daten steht und fällt mit der fachlichen Qualifikation und Unabhängigkeit der Forschenden, die unsere Indikatoren kodieren. Alle Länderexperten müssen daher vorsichtig ausgewählt werden. Das hat die Universität Göteborg übernommen. In der Regel stammen die Kodierenden aus den Ländern, die sie bewerten, und haben einen PhD. Wir sind natürlich darauf angewiesen, dass ihre Einschätzungen fundiert und ausgewogen sind. Insbesondere bei einer großen innerstaatlichen Varianz ist das keine einfache Aufgabe. Die vielleicht größte Herausforderung ist, Subjektivität zu minimieren. Alle Länderexperten erhalten detaillierte Kodieranweisungen. Sie erhalten auch Vignetten, also Beschreibungen fiktiver Situationen. Dieses Vorgehen kann helfen, gewisse Verzerrungen herauszurechnen. Die Einbindung mehrerer Expertinnen und Experten pro Land sowie das ausgefeilte V-Dem-Modell steigern die Verlässlichkeit der Daten. Aber eine nicht unerhebliche Fehlerspanne bleibt. Diese wird berechnet und transparent angegeben. 

Welche Indikatoren zur Erfassung der akademischen Freiheit wurden für den Index herangezogen?
Der Index umfasst fünf Dimensionen der Wissenschaftsfreiheit: die Freiheit der Forschung und Lehre, die Freiheit des akademischen Austauschs und der Wissenschaftskommunikation, institutionelle Autonomie, Campus-Integrität sowie die Freiheit der akademischen und kulturellen Meinungsäußerung.

Was ist aus Ihrer Sicht der zentrale Befund der Erhebung?
Im weltweiten Durchschnitt ist die Wissenschaftsfreiheit heute sehr viel besser geschützt als im ganzen letzten Jahrhundert, auch wenn es in den vergangenen Jahren eine leichte Verschlechterung gab. Aber das Ende der Skala ist noch lange nicht erreicht. Das heißt, wir müssen uns weiterhin darum bemühen, die Wissenschaftsfreiheit zu fördern und zu schützen.
 
Was hat Sie am meisten überrascht?
Wie klar die institutionelle Autonomie mit der Freiheit von Forschung und Lehre korreliert. Und wie stark die Wissenschaftsfreiheit in Brasilien und Indien in den vergangenen Jahren gesunken ist. Dies müssen wir noch genauer untersuchen. Im historischen und intraregionalen Vergleich sind diese Länderergebnisse erklärungsbedürftig. Ich kann mir gut vorstellen, dass in den AFi-Daten auch Sorgen der beteiligten Expertinnen und Experten mitschwingen, die größtenteils in den Ländern arbeiten, die sie kodieren. In Brasilien und Indien haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgrund politischer Veränderungen aktuell mit viel Ungewissheit zu tun. Ich hoffe sehr, dass sich dieser Absturz in den AFi-Daten der kommenden Jahre nicht verstetigt.

Wo erkennen Sie deutliche Anstiege?
Die Anstiege waren eine weitere Überraschung. Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten konzentrieren sich in der Regel nur auf Verschlechterungen, und auch die Medien berichten eher über Krisen als über Verbesserungen. Insgesamt tendieren wir Menschen leider zu einem Negativitätsbias. Insofern waren mir vor dieser Untersuchung keine Länder präsent, in denen sich die Wissenschaftsfreiheit verbessert. Den AFi-Daten zufolge gab es in den letzten fünf Jahren einen deutlichen Anstieg der Wissenschaftsfreiheit in Äthiopien, Armenien, Gambia, Sri Lanka und Usbekistan – was nicht heißt, dass dort alle Probleme beseitigt wären. Usbekistan hat zum Beispiel weiterhin einen sehr schlechten AFi-Wert. Aber eine Trendwende ist erkennbar. Hoffentlich hält sie an.

Welche praktischen und hochschulpolitischen Empfehlungen lassen sich aus Ihrer Sicht aus den aktuellen Erkenntnissen ableiten? 
Der AFi liefert erstmals Daten zur Einhaltung der Wissenschaftsfreiheit weltweit. Alle hochschulpolitischen Akteure sollten sich diese Daten anschauen und für evidenzbasierte Entscheidungen nutzen. AFi-Daten können mit dem V-Dem-Visualisierungstool länderspezifisch disaggregiert werden. Im Bericht Free Universities haben wir detaillierte, akteurspezifische Handlungsempfehlungen vorgelegt. Ich persönlich hoffe, dass die AFi-Daten im Rahmen des Bologna-Prozesses genutzt werden, um ein Monitoringsystem zum Thema Wissenschaftsfreiheit aufzubauen. Das wird bereits diskutiert. Ganz besonders würde ich mich freuen, wenn sich ein führendes Hochschulranking dazu durchränge, die AFi-Daten zu berücksichtigen. Eine solche Anpassung der Rankings würde im internationalen Wettbewerb um die besten Universitäten – und die besten Köpfe – einen wichtigen Anreiz für mehr Freiheit schaffen.

Auf welche Weise kann der DAAD hier als Mittlerorganisation der deutschen „Auswärtigen Kulturpolitik“ und Förderorganisation für den internationalen akademischen Austausch tätig werden?     
Mein bisheriger Eindruck ist, dass der DAAD sehr am Thema Wissenschaftsfreiheit und auch an den neuen Daten interessiert ist. Wie anderen Austauschorganisationen rate ich dem DAAD, den AFi wie ein Ampelsystem für eine erste Orientierung zu nutzen. Bei Orange und Rot ist Vorsicht angesagt. Die AFi-Daten ersetzen aber natürlich keine detaillierte und vor allem projektspezifische Abwägung. Ein schlechter AFi-Wert sollte nicht zur Beendigung der Zusammenarbeit führen. Der DAAD könnte aber Antragsstellerinnen und Antragssteller, die in Länder mit schlechten AFi-Werten reisen oder dort Kooperationen aufbauen wollen, systematisch auffordern, sich bereits in ihren Förderanträgen Gedanken zum Umgang mit Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit im Gastland zu machen. In besonders heiklen Fällen sollten Geförderte vor der Ausreise im Bereich Risikomanagement ausgebildet werden. Dazu gehört zum Beispiel die digitale Sicherheit, der Umgang mit Instrumentalisierungsversuchen und auch der Schutz von Kolleginnen und Kollegen sowie Interviewpartnerinnen und -partnern im Ausland. Der DAAD sollte auch ein verlässlicher Partner für seine ausländischen Alumni sein, wenn sie nach der Förderung unter Druck geraten sollten. Und falls DAAD-Alumni am AFi mitwirken wollen, würde ich das sehr begrüßen. Sie können sich in V-Dems Call for Experts eintragen. Ich wünsche mir, dass wir zum Thema Wissenschaftsfreiheit kollaborativ und international vernetzt weiterforschen. 

(30. April 2020)

Zur Person

Prof. Dr. Katrin Kinzelbach ist Politikwissenschaftlerin an der FAU Erlangen-Nürnberg und Ko-Direktorin des internationalen Studiengangs MA Human Rights.