Die Integration Geflüchteter in Zeiten von Corona
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In Zeiten von Corona auch für geflüchtete Studierende an der Tagesordnung: digitaler Unterricht.
Aus Anlass des Weltflüchtlingstags am 20. Juni 2020 haben der DAAD und Hochschulen erstmals eine virtuelle Themenwoche veranstaltet. Ein Schwerpunkt waren die Corona-Pandemie und die Frage, wie Hochschulen und Studierende mit den damit verbundenen Einschränkungen umgehen. Auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Hochschulprogramme des DAAD für Geflüchtete haben sich schnell an die neue Situation angepasst.
Zwar überdeckt die Corona-Pandemie aktuell viele Krisenherde in der öffentlichen Wahrnehmung, die vielfältigen Fluchtursachen sind aber weiterhin existent oder werden durch die Pandemie sogar verstärkt. Auf die große Fluchtbewegung 2015 hatte der DAAD schnell reagiert und aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) verschiedene Programme zur Integration von Geflüchteten an deutschen Hochschulen ins Leben gerufen wie Welcome und Integra. Seit 2017 werden diese ergänzt durch das Programm NRWege ins Studium, eine Förderung des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (MKW). Mit PROFI und NRWege Leuchttürme sind kürzlich zwei neue Programme zur nachhaltigen Internationalisierung und Qualifizierung geflüchteter Akademikerinnen und Akademiker hinzugekommen.
„Sinnhafte Investition“
„Die DAAD-Flüchtlingsprogramme sind eine sinnhafte Investition in die Zukunft junger Studieninteressierter und bereits ausgebildeter Akademikerinnen und Akademiker aus Ländern, in denen Krieg, Katastrophen oder Zerstörung herrschen. Mit der Integration dieser internationalen Talente in Wissenschaft und Wirtschaft bieten wir ihnen bei uns eine Perspektive und stärken den weltweiten Wissenschaftsaustausch“, sagte Prof. Dr. Joybrato Mukherjee, Präsident des DAAD, anlässlich der virtuellen Themenwoche „Vier Jahre Hochschulprogramme für Flüchtlinge – Erfolge, Perspektiven und neue Herausforderungen“. Organisiert wurde die Veranstaltungsreihe vom DAAD-Referat Hochschulprogramme für Flüchtlinge.
Lernpläne in kürzester Zeit angepasst
Die Programme Integra und NRWege ins Studium bieten Geflüchteten Sprach- und Fachkurse an Hochschulen, um eine optimale Integration in ein Studium zu ermöglichen. Die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden kurzfristigen Schließungen der Campus stellten die Hochschulen vor große Herausforderungen. Um einen Stillstand der Studienvorbereitung und -begleitung von Geflüchteten und internationalen Studierenden zu verhindern, wurden daher in kürzester Zeit Lernpläne angepasst und technische Gegebenheiten geschaffen.
Ehemalige helfen neuen Teilnehmenden
Silvia Ben Mahrez, Koordinatorin des Pre-Study-Programms der Alice-Salomon-Hochschule, berichtet von einer schnellen Umstellung. „Das hat gut funktioniert, da wir sehr eng im Team zusammenarbeiten und einmal pro Woche ein virtuelles Teammeeting haben, um zu besprechen, wie es für die einzelnen Teilnehmenden läuft. Zusätzlich haben wir Ehemalige, die jetzt wiederum die neuen Teilnehmenden begleiten. Das kommt uns sehr zugute.“ Zudem lief ein Teil des Programms schon vorher digital. Inzwischen finden alle Einheiten online statt. In Online-Treffen mit dem Kurs und in Kleingruppen werden neue grammatikalische Konzepte erarbeitet und Fragen beantwortet. Präsentationen der Teilnehmenden werden auf Video aufgenommen und allen zur Verfügung gestellt, ein ausgiebiges Feedback gibt es dann via E-Mail oder am Telefon.
„Was sich als hilfreich bewiesen hat, ist eine große Spende an Notebooks, die wir an die Teilnehmenden weitergeben konnten. Häufig scheitert es ja nicht nur am Know-how, sondern auch an der Technik“, berichtet Dr. Sabine Voigt vom Service-Center für Studierende der Universität zu Lübeck. „Außerdem haben wir großartige Tutoren und Tutorinnen, die ein Talent dafür haben, komplizierte Sachverhalte zu erklären.“ An der Hochschule werden die Tutorien als Videos festgehalten und ins Internet gestellt.
Schwierigkeiten überwinden
Viele der Kursteilnehmenden haben allerdings nur ein Smartphone zur Verfügung, außerdem nicht immer ein stabiles Netz und oft keinen WLAN-Zugang. Aufgabenstellungen online zu erledigen oder an Videoveranstaltungen teilzunehmen, gestaltet sich oft schwierig. „Die Teilnehmenden verfügen über begrenzte finanzielle Mittel“, erklärt auch George Susan vom Akademischen Auslandsamt der Technischen Hochschule Georg Agricola (THGA) in Bochum. „Die meisten besitzen keinen Drucker oder Scanner.“
Die THGA hat für dieses Problem jedoch eine überraschend simple und doch analoge Lösung gefunden: dort bekamen alle Teilnehmenden die passenden Lehrbücher per Post zugeschickt. Einfach und doch effektiv. „Lernmaterialien per Post zu verschicken, empfanden wir als besten Kompromiss zwischen den Möglichkeiten, welche der Online-Unterricht eröffnet, und den Stärken der analogen Lernmethoden“, erklärt Susan. Hanna Sommer vom Studierenden Service Center (SSC) der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) berichtet, dass auch die Teilnehmenden in ihren Lösungen kreativ sind. Hausaufgaben werden zum Beispiel handschriftlich verfasst und als Foto eingereicht und an die Lehrkräfte geschickt – fehlende Technik hält den Lernprozess kaum auf, wenn genügend Kreativität vorhanden ist.
Potenzial erkennen
An der HHU Düsseldorf finden jeweils zwei Integra- und NRWege-Projekte statt. „Die Lehrkräfte wurden kreativ und aktiv und haben in enger Absprache mit dem Studiengebiet Deutsch als Fremdsprache und dem SSC geschaut, wie sie das möglichst unkompliziert umsetzen können“, berichtet Sommer. „Mein Eindruck ist, dass diese Umstellung sehr viele kreative Kräfte freigesetzt hat.“
Ähnliches berichtet Dr. Voigt von der Universität zu Lübeck. Sie ist der Meinung, dass die Digitalisierung der Kurse auch viel Potenzial für die Zukunft bereithält. Zum Beispiel besteht dadurch die Möglichkeit, mehr Teilnehmende aufzunehmen: „Wir bekommen viele Bewerbungen bundesweit und viele haben das Problem, dass sie in Lübeck keine Wohnung finden können“, berichtet sie. „Jetzt entwickeln wir Ideen, wie wir diese Teilnehmenden digital zuschalten können.“
Teilnehmende unterstützen
Für viele war der Umstieg auf Online-Unterricht eine große Umstellung. Während für einige die neue Situation auch Vorteile bringt, berichten doch die meisten, dass ihnen der Campus und der Kontakt zu anderen Menschen sehr fehlt. Auffangmöglichkeiten bieten viele der Initiativen der Welcome-Projekte an den Hochschulen, in denen Studierende sich für Geflüchtete engagieren und ihnen helfen, sich auf ein Studium vorzubereiten und an der Hochschule zu integrieren.
Vielen Studierenden fehlen aktuell der Campus und der Kontakt zu anderen Kommilitonen.
Niemand ist allein
Innerhalb kürzester Zeit mussten viele dieser Projekte ihr Programm ändern, um es an die durch Corona bedingte neue Situation anzupassen. Dabei sticht das Engagement Einzelner deutlich hervor. Während einige Teilnehmer zum Beispiel Schutzmasken genäht haben, befassten sich viele Projekte ebenfalls mit den Chancen der virtuellen Vernetzung. Die Gewinner des DAAD-Welcome-Preises 2019, die Initiative „Bunte Hände“ der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, hatten schon bei ihrer Preisverleihung angekündigt, das Preisgeld für die Etablierung zweier neuer Projekte im Bereich des multilingualen E-Learnings und multilingualer E-Tutorials zu nutzen. Diese und weitere kreative Ideen tragen nun Früchte. Denn auch unter den veränderten Umständen bietet die Initiative weiterhin ein vielfältiges Unterstützungs- und Begleitprogramm für die Studierenden der HAW Hamburg an. So beraten Mitglieder online, nicht nur zu allgemeinen Fragen zum Studium, sondern auch zu besonders aktuellen Anliegen wie etwa Studienfinanzierung.
Zudem entwickeln Studierende gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Arbeitsstelle Migration Online-Lernmaterialien, die zur Stärkung der überfachlichen Kompetenzen eingesetzt werden sollen. Da auch der soziale Aspekt nicht zu kurz kommen darf, hat die Initiative zudem einen Gruppenchat eingerichtet, der momentan über 250 Teilnehmende umfasst. Das Ziel dabei ist, den Studierenden zu vermitteln, dass niemand allein ist – und die Rückmeldungen sind durchweg positiv.
Selbstständiges Lernen ist durch zahlreiche Online-Lernmaterialien möglich.
Offline wie online engagiert
Dabei finden die Maßnahmen keineswegs nur online statt. Das „festival contre le racisme Ulm“ wird zwar auf digitalem Wege veranstaltet – inklusive Videointerviews, einem Hackathon und einer Online-Ringvorlesung – doch auch abseits von PC und Tastatur wird viel gemacht. Die Aktion „Klangkost“ der Universität Ulm ist ein Beispiel dafür. Bei einer Suppenverteilungsaktion kochen die verschiedenen Initiativen der Hochschule hausgemachte Suppen und beschriften die Etiketten mit Informationen über die Projekte, die sie anbieten. Dazu gehören zum Beispiel eine Online-Ringvorlesung des „Bundesverband ausländischer Studierender“ oder Online-Lerntandems und Video-Treffen von der „Initiative Menschlichkeit Ulm“.
Offline funktionieren auch die „Zettel-Pakete“, die das Team von „mitStudieren“ der Universität Leipzig in Zeiten der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen verteilt hat. Aufgaben zum Deutschlernen und mehrsprachige Informationsblätter über die Corona-Krise wurden dabei vor den Haustüren der Teilnehmenden verteilt und konnten so kontaktlos entgegengenommen werden. Zusätzlich setzt sich die Initiative auch dafür ein, dass ein WLAN-Ausbau in Gemeinschaftsunterkünften und Belegwohnungen im Landkreis Leipzig möglich gemacht wird.
Perspektiven für die Zukunft
Auch „Medidus“, die Medizinische Flüchtlingshilfe Düsseldorf, wurde schnell aktiv. In einem eigenen Bereich der Website des Projekts findet jeder ausführliches Informationsmaterial zu COVID-19 in über 20 Sprachen, denn „jeder Mensch sollte die aktuell prekäre Situation verstehen können“, heißt es dort. Sechs Studierende der HAWK riefen kurzerhand ihr eigenes Projekt, „Ausländische Studierende der HAWK“, ins Leben. Über die Webseite der Stadt Hildesheim bieten die Studierenden ihre Hilfe an, außerdem sind sie aktiv in ihrem Bekanntenkreis. So unterstützen sie Kinder, die gerade Deutsch lernen, bei den Hausaufgaben und helfen Seniorinnen und Senioren, die keine oder kaum Sprachkenntnisse haben, beim Einkaufen oder bei Behördengängen.
Das ungebrochene Engagement und auch die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, sind bemerkenswert, genau wie die verschiedenen Arten, in denen die Studierenden, Teilnehmenden und Geflüchteten einander unterstützen können und Möglichkeiten finden, in Kontakt zu bleiben. Der ununterbrochene Austausch trotz zu überwindender Hürden und die Gemeinschaft, die dabei geschaffen wird, wird in Zukunft weiter wachsen und auch in der Zeit nach Corona bestehen bleiben.
Hannah Eßing, Peter Nederstigt (19. Juni 2020)
Weitere Informationen
Über 200 Hochschulen werden seit dem Jahr 2016 im Rahmen der DAAD-Flüchtlingsprogramme gefördert. Bis Ende 2019 haben über 30.000 Studieninteressierte mit Fluchthintergrund an den Kursen im Rahmen der Programme teilgenommen und rund 500 studentische Initiativen engagieren sich deutschlandweit für die Integration Geflüchteter an ihren Hochschulen.