„Transformation – Kultur – Geschlecht“ in Tunesien – ein Forschungsprojekt

Leuphana/Patrizia Jäger

„Transformation – Kultur – Geschlecht“: Die Tanzperformance von Rochdi Belgasmi war Teil einer Workshoptagung des deutsch-tunesischen Forschungsprojekts.

Welche Rolle spielen die Romanfigur Effi Briest und der Tänzer Rochdi Belgasmi, um eine Hochschulpartnerschaft zwischen der Leuphana Universität Lüneburg und der Université de la Manouba in Tunesien aufzubauen? Eine gar nicht so unbedeutende. Denn das Thema „Geschlecht und Gender in Tunesien“ hat sich dafür bestens geeignet. Das zeigt das Forschungsprojekt „Transformation – Kultur – Geschlecht“.

Das Libeskind-Auditorium der Leuphana Universität Lüneburg am 18. Juli 2018: Lärm von Kampfflugzeugen, Bombenabwürfen, Schüssen und Explosionen im Zuschauerraum, Daten und Ereignisse aus der tunesischen Geschichte werden an Wände projiziert. Plötzlich Trommeln, Schalmeien und Streicher: Der Tänzer Rochdi Belgasmi betritt die Bühne – sein Gesicht ist geschminkt, auf seinem Kopf trägt er eine Perücke mit langem Zopf und ein Diadem, eine Kordel schwingt um seine Hüften. Es sind Symbole des weiblichen Körpers.

Verhältnis der Geschlechter in Tunesien
Die folgende Tanzperformance von Belgasmi ist eine Erzählung über historische Fakten, die die tunesische Gesellschaft geprägt haben sowie über die Geschichte des Volkstanzes, der Kaffeehäuser und des Eintritts der Frauen in die Öffentlichkeit des nordafrikanischen Landes. Es geht um Verführung und Sexualität sowie um die aktuell damit verbundenen Herausforderungen in der tunesischen Gesellschaft – tänzerisch zeigt Belgasmi, wie sich das Verhältnis der Geschlechter in seiner Heimat seit Beginn des 20. Jahrhunderts gewandelt hat.

Der Auftritt von Rochdi Belgasmi war Teil der fünften Tagung mit vielen Workshops im Rahmen des Forschungsprojekts „Transformation – Kultur – Geschlecht“, das 2016 gestartet wurde, um die Partnerschaft zwischen der Leuphana Universität und der Université de la Manouba sowie dem ISSH Medenine (Université de Gabès) in Südtunesien aufzubauen und zu fördern. Der DAAD unterstützte das Projekt im Rahmen der Deutsch-Arabischen Transformationspartnerschaft. Dabei war es nicht nur das Ziel, die Lehre an den tunesischen Hochschulen zu modernisieren und deren wissenschaftliche Leistungsfähigkeit zu steigern, sondern auch, den Wandel von Kultur und Geschlecht in den arabischen Ländern und besonders in Tunesien nach der Revolution von 2010/2011 besser zu verstehen.

„Transformation – Kultur – Geschlecht“ in Tunesien – ein Forschungsprojekt

AdobeStock

Alte und neue Architektur in der tunesischen Hauptstadt Tunis: Seit der Unabhängigkeit des Landes 1956 spielte die Emanzipation der Frauen eine besondere Rolle.

Der Staatsfeminismus – eine Maskerade
„Wir deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben im Projekt gelernt, dass die Situation von Frauen in arabischen Ländern wesentlich komplexer ist, als sie beispielsweise in den deutschen Medien dargestellt wird“, erzählt Projektleiterin Dr. Steffi Hobuß. So spielte die Emanzipation der Frauen seit der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich 1956 eine besondere Rolle: Der Staatsfeminismus war ein Aushängeschild des neuen Regimes. Die Emanzipation der Frauen sollte als Merkmal eines Staates wahrgenommen werden, der modern und weltoffen ist und sich gegen den Islamismus wendet. Doch dieser Staatsfeminismus war auch eine Maskerade, um Unrecht, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu überdecken. Die Folge: Im heutigen Tunesien ist es nicht ohne Weiteres möglich, sich ohne diese historische Kenntnis auf Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit zu berufen. Diesen Diskurs spiegelt aktuell auch das Auftreten tunesischer Frauen im öffentlichen Raum wider – während viele junge Frauen vor allem im Norden körperbetonte Kleidung tragen, gibt es zugleich auch eine Rückkehr von Praktiken des Schleiertragens.

Der Forschungsdiskurs in Publikationen
Die am Projekt beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler publizierten ihre Analysen über die komplexe Transformation von Kultur und Geschlecht in der tunesischen Gesellschaft sowie zu aktuellen Geschlechterbegriffen im Sammelband „Tunesische Transformationen“, der Ende 2019 erschien. Er enthält neben einem Interview mit der tunesischen Philosophin Soumaya Mestiri auch die erste deutsche Übersetzung eines Kapitels ihres Buches „Decoloniser le féminisme“, das deutschen Leserinnen und Lesern erstmals zugänglich gemacht wird und die tunesische Perspektive im deutschen Forschungsdiskurs stärkt. In dem Band haben auch junge Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler erstmals einen Beitrag publiziert. Geplant ist noch eine Sonderausgabe des Journals „Wagadu. A Journal of Transnational Women's and Gender Studies“ mit Beiträgen von Mitgliedern der Forschungsgruppe.

Das Verhältnis der Geschlechter in Tunesien

Leuphana/Universität Lüneburg


Projektleiterin Dr. Steffi Hobuß: „Die Situation von Frauen in arabischen Ländern ist wesentlich komplexer als in deutschen Medien dargestellt.“

Aufbrechen hierarchischer Bildungsstrukturen
„Das Projekt war für beide Universitäten ein Erfolg“, sagt Dr. Hobuß. „Wir haben uns nicht nur inhaltlich, sondern auch über moderne Formen der Ausbildung und Lehre sehr intensiv ausgetauscht und dabei viel gelernt.“ So orientiere sich das tunesische Bildungssystem in hohem Maße am Vorbild Frankreich, das Vorlesungen und Frontalunterricht favorisiere. „Nach wie vor bestehen zum Teil hierarchische Strukturen, die stärker eine Wissensvermittlung fördern statt Betreuungsprozesse“, berichtet die Lüneburger Projektleiterin. „Wir konnten dies ein wenig aufbrechen, indem wir uns wechselseitig moderne Unterrichtsmodelle präsentierten sowie die Idee gemeinsamer Kolloquien mit unterschiedlichen akademischen Statusgruppen entwickelten.“ Das war ein wichtiger Schritt, um alte Bildungsstrukturen zu revidieren und neue zu etablieren.

Prüfungsrelevant: das Leben der Effi Briest
Diesen Prozess begleiteten während der gesamten Laufzeit prüfungsrelevante Blockseminare im Master- und Bachelorprogramm der tunesischen Universitäten. Im Wintersemester 2019/20 wurden von Dr. Hermann Harder zwei Seminare zur Geschichte der Bundesrepublik und zur Deutschen Literatur im 19. Jahrhundert angeboten und betreut. Im ersten Seminar gab er einen Überblick über die Weichenstellungen der Kanzlerschaften von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, im zweiten wurden zwei Werke der deutschen Erzählliteratur behandelt: die Novelle „Die Marquise von O…“ von Heinrich von Kleist und der Roman „Effi Briest“ von Theodor Fontane. In beiden Seminaren gingen die Klausurnoten zum Thema auch in die Gesamtbewertung ein.  

Das Fazit: Die Beteiligten – Studierende, Nachwuchsakademikerinnen und -akademiker sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – haben während der Projektdauer von 2016 bis 2019 viel voneinander gelernt. Sie konnten nicht nur ihre Erfahrungen und Fachkenntnisse über moderne Hochschulstrukturen austauschen, sondern auch durch die vielen Diskussionen über die Rolle und das Verhältnis von Geschlechtern in beiden Gesellschaften neue Eindrücke erhalten. Außerdem hat das Projekt eine wichtige Perspektive für die Zukunft aufgezeigt: „Dem Projekt ist es zu verdanken, dass wir deutsche und tunesische Akademikerinnen und Akademiker aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen nachhaltig vernetzen konnten. Das ist eine Basis, um zukünftig neue für beide Seiten interessante Partnerschaftsideen zu bilden“, sagt Dr. Moez Maataoui, Maître-Assistant an der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités der Université de la Manouba. Doch bis es so weit ist, bleibt ein Moment besonders hängen: die Tanzperformance von Rochdi Belgasmi und seine tänzerische Erzählung über das Verhältnis der Geschlechter in Tunesiens Geschichte.

Michael Siedenhans (6. Oktober 2020)

Weitere Informationen

Deutsch-Arabische Transformationspartnerschaft

Im Jahr 2012 startete das Förderprogramm mit Mitteln des Auswärtigen Amtes mit den Zielländern Ägypten und Tunesien, 2013 kamen Jemen, Jordanien, Libyen und Marokko hinzu, 2016 Irak und Libanon.

Deutsch-Ägyptische Fortschrittspartnerschaft

Wegen der schwierigen politischen Rahmenbedingungen wurde die Förderung neuer Kooperationsmaßnahmen mit Ägypten im Rahmen der Transformationsprogramme 2015 ausgesetzt; mit der „Deutsch-Ägyptischen Fortschrittspartnerschaft“ lebte sie 2019 wieder auf.

Hochschuldialog mit der islamischen Welt

Auch im Hochschuldialog-Programm können Kooperationsmaßnahmen mit Hochschulen in arabischen Staaten gefördert werden. Hier liegt der Schwerpunkt auf kultureller Sensibilisierung und Verständigung.