Bauen für die und mit der Gesellschaft
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„Es gibt nicht das eine Buenos Aires. Es ist die Stadt der Stadtteile, der ,barrios’ – jedes Viertel hat einen anderen Geschmack, man muss sie riechen lernen“: Seit vier Jahren leitet Architekt Markus Vogl den vom DAAD geförderten Walter-Gropius-Lehrstuhl in der argentinischen Hauptstadt.
Der Walter-Gropius-Lehrstuhl an der Universidad de Buenos Aires in Argentinien wird vom DAAD mit Mitteln des Auswärtigen Amtes gefördert und besteht – in wechselnder Besetzung – seit fast 20 Jahren. Im nächsten Jahr wird der Lehrstuhl neu ausgeschrieben. Was ihn ausmacht, liegt in den Händen der aktuellen Lehrstuhlinhaberin oder des Lehrstuhlinhabers, die über das DAAD-Programm Langzeitdozenturen unterstützt werden. Seit vier Jahren prägt der Architekt und Stadtplaner Markus Vogl die „Cátedra Gropius“.
Dass Lehrstuhlinhaberin oder -inhaber dem gleichen Fach angehören wie der berühmte Namensgeber – der Bauhausgründer und Architekt Walter Gropius –, ist keine Voraussetzung. Denn auch das Bauhaus verstand sich immer als interdisziplinär. Seit Gründung des Lehrstuhls hatten Vertreter verschiedener Disziplinen die Leitung inne: Politikwissenschaftler Prof. Dr. Max Welch Guerra, Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Schäffner sowie Bau- und Architekturhistoriker Prof. Dr. Joaquín Medina Warmburg. 2017 zog mit Markus Vogl der erste Architekt und Städtebauer ein. „Die Freiheit, die man am Walter-Gropius-Lehrstuhl hat, ist ein enormes Glück“, sagt der 45-Jährige. Eine Freiheit, die er zu nutzen wusste und weiß.
Runter in den ersten Stock
Die Facultad de Arquitectura, Diseño y Urbanismo (FADU) der Universidad de Buenos Aires (UBA) gilt als die „Mutter aller Architekturschulen in Argentinien“. Mit mehr als 25.000 Studierenden und sieben Disziplinen ist sie eine der größten Fakultäten der UBA (insgesamt rund 300.000 Studierende). Aufgrund der großen Anzahl Studierender wird in drei Schichten – vormittags, nachmittags und abends – unterrichtet. Der Gropius-Lehrstuhl ist der einzige internationale an der Fakultät und war früher ausschließlich im postgradualen Bereich angesiedelt. „Das Gebäude hat vier Stockwerke. Ganz oben waren Forschung und Dekanat – und die ‚Cátedra Gropius‘. Deshalb hatten die meisten Studierenden überhaupt keinen Bezug zum Lehrstuhl“, beschreibt Vogl die Ausgangslage. Das wollte er ändern. „Deshalb war klar: Wir müssen runter in den ersten Stock, wo die Alltagslehre stattfindet und ein ganz anderer Kontakt zu den Studierenden besteht.“ Das Dekanat ermöglichte die Lehre der Cátedra in den Studiengängen, und seitdem stellt der Lehrstuhl ein interdisziplinäres Studienangebot mit Entwurfsstudios und Seminaren an der FADU bereit, das allen Studienrichtungen offensteht. Ein weiteres Anliegen war Vogl, dieses Angebot mit einem Team junger Lehrkräfte auf die Beine zu stellen. „Junge Architektinnen und Architekten haben enorme Kapazitäten und enormes Wissen. Meiner Ansicht nach müssen sie nicht erst jahrelang bei Professorinnen oder Professoren unbezahlt als Aushilfslehrkräfte arbeiten, bis sie die Chance auf eine Assistentenstelle an einem Lehrstuhl erhalten. Deshalb arbeite ich jetzt mit vielversprechenden Kolleginnen und Kollegen zusammen, denen der Lehrstuhl eine Plattform gibt, um zu experimentieren und eigenständige Lehrerfahrung zu sammeln”, erklärt er sein Konzept.
Markus Vogl: „Wenn ich mit deutschen Kolleginnen und Kollegen arbeite, bin ich immer der Südamerikaner, und in Buenos Aires bin ich der Deutsche. Diese Spannung auch aushalten zu dürfen, ist für mich ein absolutes Privileg.“
Lehre und Praxis
Den Lehrstuhl und sich selbst hat der Architekt und Stadtplaner der angewandten Lehre und Forschung verschrieben. Er begann, eine andere Art des Unterrichtens einzuführen, um eine Alternative zur klassischen Meisterklasse zu fördern, die in der argentinischen Architekturlehre immer noch dominierend ist. „Lehrende sollten Studierenden als Gesprächspartner auf Augenhöhe begegnen. Sie sollten das Interesse der Studierenden erkennen und fragen: Was braucht ihr aus dem Werkzeugkasten der Architektur?, oder: Wann brauchen wir einen anderen Werkzeugkasten?“, beschreibt Vogl seinen Zugang zum Unterrichten. Außerdem geht es ihm um das Aufbrechen einer disziplinären Lehre, eine neue Auseinandersetzung mit der Herausforderung Stadt, eine andere Form von Teilhabe. Und somit auch um die Frage: „Was gibt die Universität der Gesellschaft zurück?“
„Wohnen ist nicht gleich bauen“
Wie das in der Praxis aussieht, verdeutlicht eines der Projekte aus dem vergangenen Jahr, die „Biblioteca Popular La Carcova“. Hier arbeitete der Walter-Gropius-Lehrstuhl neben anderen Institutionen und NGOs mit der Universidad Nacional de San Martín (UNSAM), der FADU (UBA) und dem Team der „Biblioteca Popular La Carcova“ zusammen. 130 Studierende entwickelten im Sommersemester 2019 realisierungsfähige „Entwurfskonzepte für die Transformationspotenziale von Schwellenräumen zwischen informellen Siedlungen und formellem Stadtkontext“. La Carcova in der Vorstadt San Martín ist eine informelle Siedlung, eine sogenannte „villa miseria”, in der die Bewohnerinnen und Bewohner marginalisiert am Rande der Gesellschaft leben. Die studentischen Entwürfe zielten darauf ab, die Bedürfnisse der Bibliothek zu analysieren und in architektonische und städtebauliche Vorschläge für eine Erweiterung der „Biblioteca Popular“ und eines „Parque Educativo“ umzusetzen. Für ihre Arbeit verließen die Studierenden den universitären Raum und bezogen das lokale Wissen und die alltäglichen Erfahrungen der Bewohnerinnen und Bewohner vor Ort mit ein. „Die Studierenden hören zu und erfahren, dass sehr viel lokales Wissen vorhanden ist, das wir als Disziplin wertschätzen müssen. Unsere Disziplin ist wichtig, weil wir wissen, wie man baut. Aber die Menschen vor Ort wissen, wie sie wohnen wollen, und wohnen ist nicht gleich bauen. Wir müssen uns auf diesen Übersetzungsprozess einlassen, das ist sehr spannend“, sagt Vogl.
Studierende der FADU und UNSAM bei einem Workshop im Gespräch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von „La Carcova“.
Schließlich wurde das erste Bauprojekt realisiert: Ein großer Sonnenschirm im öffentlichen Raum – „El Paragua“. Für die Bewohnerinnen und Bewohner ist „El Paragua“ nicht nur eine Möglichkeit, sich vor der Sonne geschützt im Freien aufzuhalten und mit anderen zu treffen, sondern auch ein Bauwerk, mit dem sie sich identifizieren können – sozusagen ihr eigener Obelisk (ein berühmtes Wahrzeichen von Buenos Aires auf der Straße des 9. Juli). Eine Politik der kleinen Schritte; die Umsetzung weiterer Projekte ist geplant. „Die im Zusammenhang mit dem Projekt an den beteiligten Hochschulen angebotenen Lehrfächer etablieren sich jetzt im Curriculum“, freut sich Vogl. „Damit zeigen wir, dass wir eine andere Haltung zum Bauen entwickeln müssen. Architektur hat immer eine gesellschaftliche Dimension, und es ist wichtig, diese Verantwortung auch zu unterrichten. Wir versuchen auf diese Weise, den ‚villas‘ zu einem formaleren Gerüst von Stadt mit der notwendigen Infrastruktur zu verhelfen. Um diese Transformation zu begleiten, braucht es einen langen Atem, aber wir werden uns hier weiter engagieren.“ Auch das ist eine Reminiszenz ans Bauhaus: sich mit gesellschaftlichen Begebenheiten auseinanderzusetzen und einen Beitrag aus den entwerfenden Disziplinen heraus zu leisten.
Der Prozess und die Arbeit in und mit der „Villa La Carcova“ wurde mittlerweile von der Architektenkammer Argentiniens Consejo Profesional de Arquitectura y Urbanismo (CPAU) und der Architektenvereinigung Sociedad Central de Arquitectos (SCA) als wichtiger solidarischer Beitrag der Architektur ausgezeichnet. Ein weiteres Entwurfssemester über die Aufstockung der Bibliothek wurde abgeschlossen. Das Projekt soll nach dem Ende des Lockdowns mit Mitteln der deutschen NGO „Aktion Palca“ weiter umgesetzt werden.
Corona: Online geht viel verloren
Wegen der Corona-Pandemie lief an der UBA von Ende März bis Juni ein informelles Curriculum, das von allen Lehrenden getragen wurde, auch vom Team der „Cátedra Gropius”. Der Start des Sommersemesters 2020 wurde auf Juni verschoben, sodass sich das Wintersemester nach nur einer Woche Pause unmittelbar anschloss. Vogl und sein Team arbeiteten intensiv daran, ihre Lehrveranstaltungen auf Onlineformate umzustellen. „Das funktioniert, aber es fehlt die Arbeit vor Ort, das Rausgehen in die Stadt. Man kann Studierenden eine Stadt nicht über Google Maps erklären“, so der Lehrstuhlinhaber. Auch Entwurfslehre und Stadtplanung seien schwierig über den Filter des Bildschirms zu unterrichten. „Dadurch geht viel verloren. Um jungen Menschen das Entwerfen nahezubringen, braucht es Kommunikation in Präsenz und die Arbeit mit physischen Modellen.“
Große Chancen, große Herausforderungen
Deshalb hofft er, dass das fünfte und letzte Jahr seiner Langzeitdozentur am Walter-Gropius-Lehrstuhl weniger von der Pandemie geprägt sein wird. Auch weil er es nutzen will, um einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger einen leichten Einstieg zu ermöglichen. „Ich möchte Kontinuität für den Lehrstuhl. Dafür muss er an der FADU gut institutionalisiert und präsent sein. Meiner Nachfolge wünsche ich, dass sie oder er nicht erst diese ganzen organisatorischen Kämpfe durchfechten muss, sondern ihren oder seinen Platz an der Fakultät gleich findet“, so der Architekt. Gleichzeitig betont Vogl, dass das Dekanat der FADU sehr offen sei und seiner Arbeit ein großes Interesse entgegenbringe: „Ohne die Unterstützung des Dekanats und der Studiengangsleiterinnen und -leiter könnte ich so nicht arbeiten.“ Viel Bestätigung für seine Tätigkeit habe er in den vergangenen Jahren auch über die Zusammenarbeit mit dem DAAD erfahren: „In der ganzen Zeit hatte der DAAD immer Vertrauen in das, was ich tue. Darauf aufbauend zeigt die Arbeit in der Lehre und Praxis der vier letzten Jahre, dass es gelungen ist, einen wichtigen Beitrag im Diskurs über die Stadt und in der Vernetzung zwischen argentinischen und deutschen Universitäten zu leisten und den Lehrstuhl an der FADU zu positionieren.“
Britta Hecker (2. Dezember 2020)
Vita
Bevor Markus Vogl 2017 den Walter-Gropius-Lehrstuhl übernahm, arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen an der Fakultät für Architektur und Stadtplanung der Universität Stuttgart. Zuvor unterrichtete er an der Technischen Universität Delft, dem Institut für Kunst und Architektur an der Akademie der bildenden Künste Wien, an der Professur für Angewandte Geographie, Raumforschung und Raumordnung der Universität Wien sowie an der Fakultät für Architektur der Universität Innsbruck. Er ist eingetragener Architekt und Stadtplaner und führt gemeinsam mit einer Partnerin das Studio Urbane Strategien GmbH in Stuttgart. In Praxis, Lehre und Forschung arbeitet er an der Schnittstelle zwischen Architektur, Städtebau und Stadtplanung. Schwerpunkte seiner Arbeit sind urbane Transformationsprozesse, Quartiersentwicklungen und Wohnungsbau. Vogl studierte Architektur mit Schwerpunkt Städtebau an der Technischen Universität München, der TU Delft und der FADU (UBA) in Buenos Aires.