Europäische Hochschulen: „Eine neue Qualität“

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Bundesbildungsministerin Anja Karliczek und DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee im Interview zu der EU-Initiative der Europäischen Hochschulen, Deutschlands Beteiligung und dem Wandel des Europäischen Bildungsraums.

Seit Januar 2021 werden in der zweiten Runde des nationalen DAAD-Begleitprogramms „Europäische Hochschulnetzwerke (EUN) – nationale Initiative“ 25 weitere Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften gefördert, finanziert aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Die Vielfalt der neu ausgewählten Netzwerke reicht von der „European University Alliance on Responsible Consumption and Production“ mit der TU Bergakademie Freiberg und der Hochschule Mittweida als deutschen Partnern bis zur unter anderem von der Universität zu Köln gebildeten „European University for Well-Being“, die das vielschichtige Konzept des Well-Being mit Universitäten aus insgesamt sieben europäischen Ländern vorantreibt.

Deutschland intensiviert mit der zweiten Runde des nationalen Begleitprogramms seine Unterstützung der Erasmus+ Initiative „Europäische Hochschulen“ der Europäischen Union. An den insgesamt 41 europaweiten Allianzen sind 35 deutsche Hochschulen beteiligt. Im Interview mit DAAD Aktuell sprechen Bundesbildungsministerin Anja Karliczek und DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee über die bisherige Entwicklung der Initiativen und ihre Bedeutung für die Zukunft Europas.

Frau Ministerin Karliczek, Herr Prof. Dr. Mukherjee, auch in der Hochschulwelt sorgt die Corona-Pandemie nach wie vor für große Unsicherheit, zugleich wird die EU-Initiative zu den Europäischen Hochschulen unvermindert fortgesetzt. Welche Hoffnungen verbinden Sie mit diesen Hochschulallianzen?

Anja Karliczek: Gerade die Corona-Krise zeigt, wie sehr es auf internationale Netzwerke und europäischen Zusammenhalt ankommt. Die Europäischen Hochschulnetzwerke werden eine neue Generation europäischer Absolventinnen und Absolventen hervorbringen, die in unterschiedlichen Ländern und in unterschiedlichen Sprachen studiert und gelebt haben. Die ohnehin gute Zusammenarbeit europäischer Hochschulen wird mit der Initiative auf ein neues Niveau gehoben. Ich denke an den Austausch von Studierenden, Lehrenden und Forschenden, des Hochschulpersonals, aber auch an gemeinsame Studienprogramme und institutionelle Kooperationsformen. Am Ende könnten vielleicht sogar Gründungen gemeinsamer Institute oder eines gemeinsamen Campus stehen. 

Die Weiterentwicklung der Initiative wurde bereits während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in die Wege geleitet und soll nun unter portugiesischer EU-Ratspräsidentschaft in konkrete Vorschläge an die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten münden. Deutschland wird dies unterstützen.

Joybrato Mukherjee: Die Europäischen Hochschulallianzen stehen für eine neue Qualität des europäischen Austauschs. Sie bedeuten einen Quantensprung in der Zusammenarbeit der Hochschulen aus allen Regionen Europas, in sämtlichen Tätigkeitsbereichen und auf allen Organisationsebenen. Die zentralen Aspekte des neuen Erasmus+ Programms werden sich besonders in den Europäischen Hochschulen konstituieren: Als Vorreiter für Vernetzung, Digitalisierung, aber auch für Nachhaltigkeit und Soziale Teilhabe werden die Europäischen Hochschulen zum Brennglas der Internationalisierung in Europa, und auch weltweit. Sie entwickeln eine gemeinsame, integrierte, langfristige Strategie für Bildung und treiben zugleich Forschung, Innovationen und den gesellschaftlichen Dialog voran. Es entstehen europäische Teams aus Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie anderen Akteuren der Gesellschaft, die sich in einem multidisziplinären Ansatz gesellschaftlichen und anderen Herausforderungen stellen. Themenorientierte länderübergreifende Studiengänge, zum Beispiel zu globalen Gesundheitsfragen oder zu Aspekten der nachhaltigen Entwicklung, werden gezielt gefördert, ebenso neue Wege in der digitalen Lehre und für digitale Austauschformate. Erst einmal etabliert, wird sich in den neuen Allianzen die Zukunft des Europäischen Bildungsraums manifestieren. 

Welche Bedeutung haben künftig die oft beschworenen „europäischen Werte“?

Anja Karliczek: Wissenschaft, Forschung und Lehre brauchen Freiheit. Nur in Freiräumen kann wirkliche Kreativität und neues Wissen entstehen. Von der Wissenschaftsfreiheit und den daraus resultierenden Erkenntnissen und Innovationen profitiert die gesamte Gesellschaft, profitiert Europa. Die Freiheit der Forschung und Lehre machen Europa als Wissenschaftsstandort attraktiv. Für Deutschland sind diese Werte – etwa die Freiheit von Wissenschaft und Lehre – Grundsäulen unserer offenen Gesellschaft und nicht verhandelbar. Demokratie und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit, sie müssen verteidigt und Tag für Tag mit Leben gefüllt werden. Ein Blick in die Welt zeigt, dass wir in Deutschland und der Europäischen Union ein Bollwerk für die Freiheit von Wissenschaft und Lehre sind.

Ich bin froh, dass wir sowohl im Europäischen Hochschulraum im Rom-Kommuniqué mit 49 Staaten wie auch im Europäischen Forschungsraum der EU mit der Bonner Erklärung klare Bekenntnisse für ein entschiedenes Auftreten zum Schutz der Lehr- und Forschungsfreiheit abgegeben haben. Wir haben die Entwicklung von Monitoring-Systemen vereinbart, um Verstöße gegen die Wissenschaftsfreiheit transparent zu machen und uns dagegen in Zukunft noch besser einsetzen zu können. Deutschland wird sich an diesen Arbeiten aktiv beteiligen. Gerade auch in der internationalen Zusammenarbeit gilt es, die Freiheit der Forschung zu schützen und einzufordern.

Doppelinterview Mukherjee und Karliczek Europäische Hochschulen

Chaperon

Bundesministerin für Bildung und Forschung Anja Karliczek.

Warum braucht es eigentlich eine nationale Initiative für die Europäischen Hochschulen, wenn es doch vor allem um europäische Zusammenarbeit geht?

Anja Karliczek: An die beteiligten Hochschulen in den Allianzen werden hohe Ansprüche und Erwartungen gestellt. Allein mit der Finanzierung durch das EU-Programm Erasmus+ wäre die Umsetzung der ambitionierten Projekte und die Vielzahl von Aktivitäten in den 41 Netzwerken kaum möglich. Das nationale Programm unterstützt die deutschen Hochschulen deshalb bei ihrem Einstieg in die EU-Initiative „Europäische Hochschulen“. Wir helfen, wie übrigens viele andere Mitgliedstaaten auch, gewissermaßen mit eigenen Finanzmitteln ein wenig nach, damit die deutschen Universitäten innerhalb der europäischen Netzwerke direkt durchstarten können. Damit wollen wir unter anderem die Sichtbarkeit erhöhen. An den Europäischen Hochschulen soll die kommende Generation von Europäerinnen und Europäern lernen, lehren, forschen und durch Freundschaften zusammenwachsen. Damit diese großartige Initiative langfristig von Erfolg gekrönt ist, braucht es eine nationale wie eine europäische Kraftanstrengung. Deutschland leistet hierzu seinen Beitrag.

Joybrato Mukherjee: Gerade weil die Entwicklung hin zu Europäischen Hochschulen ein so vielschichtiges Ziel ist, möchten wir möglichst breit gefächerte Unterstützung anbieten. Wir stärken die deutschen Hochschulen beim weiteren Ausbau ihrer europäischen Allianzen – in Lehre, Forschung und auch angesichts ihrer weitergehenden gesellschaftlichen Verpflichtungen im Rahmen der „Third Mission“. Das nationale Begleitprogramm sorgt zudem für eine stärkere Vernetzung der deutschen Hochschulen untereinander, erhöht ihre Sichtbarkeit und fördert auch den Dialog mit nationalen sowie internationalen Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Gesellschaft. Neben den auf EU-Ebene geförderten Allianzen mit deutscher Beteiligung unterstützen wir in einer zweiten Programmlinie sieben weitere deutsche Hochschulen, deren Antrag im EU-Programm nur knapp abgelehnt wurde. Sie sollen ihre Netzwerkaktivitäten fortführen und sich auf eine spätere EU-Ausschreibung vorbereiten können.

Doppelinterview Mukherjee und Karliczek Europäische Hochschulen

Jonas Ratermann/DAAD

DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee.

Wie sind die Allianzen, die 2019 und 2020 bereits auf europäischer Ebene ausgewählt wurden, gestartet? 

Joybrato Mukherjee: Sie sind gut gestartet. Im Juni 2019 wurden in der ersten Pilotrunde 17 Projekte auf europäischer Ebene ausgewählt. An ihnen sind nicht weniger als 15 deutsche Hochschulen in 14 Netzwerken beteiligt, entweder als Koordinatoren oder als Partner. Schon in dieser Pilotrunde zeigte sich das große Potenzial der neuen Europäischen Hochschulallianzen: Ihre Schwerpunkte reichen von der digitalen Transformation über die gesellschaftliche Verantwortung bis zur nachhaltigen Entwicklung europäischer Küstenregionen. Trotz der Corona-Pandemie konnten die Netzwerke 2020 bereits zahlreiche Aktivitäten durchführen, etwa gemeinsame Online-Seminare oder virtuelle Summer Schools. Einige dieser Europäischen Hochschulallianzen stellt übrigens bereits die DAAD-Podcast-Serie „Campus Europa“ ausführlicher vor. In der zweiten Pilotrunde wurden im Juli 2020 weitere 24 Netzwerke ausgewählt; an 18 dieser Netzwerke sind insgesamt 20 deutsche Hochschulen beteiligt. Im Januar wurden nun auch diese Hochschulen in das nationale Begleitprogramm zur EU-Initiative „Europäische Hochschulen“ aufgenommen.

Anja Karliczek: Wir sehen ganz klar: Europas Stärke ist die Vielfalt! Das zeigen uns die institutionelle, disziplinäre und thematische Diversität der 41 Allianzen und ihre ambitionierten Projekte. In der Tat sind die Allianzen gut gestartet und ihr Mehrwert lässt sich schon heute erkennen.  

Wie wird die Idee der Europäischen Hochschulen in der 2021 gestarteten, neuen Programmgeneration von Erasmus+ weiter vorangetrieben? 

Joybrato Mukherjee: Die im Dezember 2020 erzielte Einigung zwischen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und dem Europaparlament zur neuen Erasmus+ Programmgeneration bedeutet auch, dass die Förderung der Europäischen Hochschulen integraler Bestandteil des Programms wird. Diese weitreichende Finanzierung gibt den beteiligten Hochschulen sowie zukünftigen Antragstellerinnen und Antragstellern wertvolle Planungssicherheit. Essenziell für die neue Programmgeneration ist, dass die bestehenden und neuen Netzwerke eine auskömmliche Förderung erhalten, sodass die Europäischen Hochschulen zu wahren Leuchttürmen im Europäischen Bildungsraum werden und auch im globalen Hochschulwettbewerb einen exzellenten Ruf etablieren können.

Grundsätzlich gefragt: Wie wird sich der Europäische Bildungsraum in den kommenden Jahren entwickeln?

Anja Karliczek: Das Ziel der Verwirklichung des Europäischen Bildungsraums ist ambitioniert. Hier sind vor allem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gefragt, in ihre nationalen Systeme zu investieren und maximale Anstrengungen zu unternehmen. Mit den Impulsen auf der europäischen Ebene stärken wir unsere Zusammenarbeit untereinander und lernen gegenseitig, was in den europäischen Ländern gut funktioniert – und was eher nicht. 

Wir haben zum Beispiel in der Corona-Krise einen intensiven Austausch darüber geführt, wie die einzelnen Länder ihre Bildungssysteme trotz der Pandemie aufrechterhalten haben, welche kurz-, mittel- und langfristigen Strategien es gibt. Den Austausch und die Unterstützung auf europäischer Ebene in der zunehmenden Digitalisierung des Lernens und Lehrens halte ich für wichtig. Auch hier kann die europäische Ebene unterstützen, die Zusammenarbeit innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten zu vertiefen. 

Joybrato Mukherjee: Europäische Kooperation in Bildung und Forschung ist entscheidend für eine erfolgreiche Zukunft unseres Kontinents. Durch die enge Anbindung der Europäischen Hochschulen an das Forschungsprogramm Horizon Europe wird eine Verknüpfung geschaffen, die exzellente Bildung und Forschung verbindet. Das auf diese Weise gebündelte Wissen und die gemeinsam vorangetriebenen Innovationen können zu wesentlichen Vorteilen im weltweiten Wettbewerb werden. Die im vergangenen Jahr beschlossene DAAD-Strategie 2025 betont auch, dass nur international vernetzte Hochschulen in der Lage sind, globale Herausforderungen gemeinsam mit Politik und Gesellschaft zu bewältigen. In diesem Sinne sollen die Europäischen Hochschulen Kraftwerke und Taktgeber für den Europäischen Hochschulraum werden. An ihnen wird ein geeintes und starkes Europa nicht bloß erlebbar: Studierende und Forschende können dort auch die europäische Zukunft gestalten.

Interview: Johannes Göbel (2. März 2021)