Mehrsprachigkeit gehört zu Europa
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Der europäische Hochschulraum umfasst 47 Mitgliedsstaaten. Ohne seine vielen Sprachen ist er nicht denkbar. Der Erhalt dieser Sprachenvielfalt ist wichtig und das Englische als Lingua franca kein Ersatz. Daher setzt sich der DAAD kontinuierlich für die Stärkung der deutschen Sprache ein. In einer Serie zur Mehrsprachigkeit betrachtet DAAD Aktuell dieses Mal die Situation in Europa.
Die akademische Ausbildung wird internationaler, immer mehr Hochschulen bieten englischsprachige Studiengänge an. Brauchen die europäischen Hochschulen überhaupt noch ihre Muttersprachen? „Auf jeden Fall“, sagt Prof. Dr. Henning Lobin, Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim und Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim. „Durch seine vielen Amtssprachen, Regionalsprachen und Minderheitensprachen ist Europa von einer großen Vielsprachigkeit geprägt, und jede Hochschule ist immer in der Einzelsprachigkeit ihrer jeweiligen Region verankert.“ Das bedeute, so Lobin, alle Studierenden und Lehrenden brächten ihre sprachliche Prägung, ihre Erfahrungen aus den einzelnen Muttersprachen in den gemeinsamen europäischen Bildungsraum ein. Selbst wenn es durch die Internationalisierung eine größere Annäherung an das Englische als wissenschaftliche Lingua franca in Europa gibt: Alle anderen Sprachen werden immer mitklingen.
Prof. Dr. Henning Lobin, Wissenschaftlicher Direktor am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim und Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim.
Mehrsprachigkeit ermöglicht fundierten Austausch
Lobin plädiert daher für einen differenzierten Blick auf die Studiengänge, auf das tatsächliche Sprachverhalten und auf das, was mit Sprache erreicht werden kann: „Gerade die klassischen Geisteswissenschaften sind stark auf unterschiedliche Sprachen ausgerichtet. Inhalte zu erfassen, erfolgt hier in einem hohen Maße durch einzelsprachliche Spezifika. In den Bereichen Kunstgeschichte oder Archäologie beispielsweise kommunizieren Gruppen intensiv auf Französisch, Deutsch oder Italienisch“, sagt Lobin. Während die Mehrsprachigkeit für die Naturwissenschaften keine so große Rolle spiele, weil diese viel auf Englisch publizieren und konferieren, gelte das für viele andere Fächer nicht. Deshalb dürfe man auch nicht so tun, als sei die Vielsprachigkeit schon längst durch das Englische überwunden. Heutzutage studiert mit rund 40 bis 50 Prozent eines Jahrgangs zwar ein sehr breiter Querschnitt der Bevölkerung, aber zu glauben, dass diese Studierenden einfach so in der Lage seien, auf Englisch zu studieren, sei eine Illusion, so Lobin: Es fehle an Fachsprachlichkeit, an Differenziertheit im schriftsprachlichen Ausdruck und an der Praxis eines akademischen Diskurses.
Deutsche Sprache fördern
Der Bedarf an Mehrsprachigkeit macht es erforderlich, die Einzelsprachen in ihrer Rolle zu stärken. Die deutsche Sprache ist in Europa bereits sehr präsent: Allein 100 Millionen Menschen lernen Deutsch als Erst- oder Zweitsprache in der Kindheit. Das macht Deutsch zur größten Muttersprache in Europa. Für die Förderung der deutschen Sprache setzt sich Lobin daher beispielsweise im Beirat Germanistik des DAAD ein – mit seinen Erfahrungen als Wissenschaftlicher Leiter des IDS und als Hochschuldozent. Umgekehrt erhält er über den Beirat eine spannende Verbindung in die nicht-deutschen Sprachräume. „Der Beirat Germanistik als einziges Fachgremium des DAAD spielt für die strategische Ausrichtung der Deutsch- und Germanistikförderung weltweit eine wichtige Rolle“, sagt Dr. Hebatallah Fathy, beim DAAD für das Referat Germanistik, deutsche Sprache und Lektorenprogramme zuständig. „Die Beiratsmitglieder beraten uns, wie wir die Germanistik und die deutsche Sprache im Ausland am besten unterstützen und stärken können“, so Fathy. „Durch die internationale Besetzung des Beirats erhalten wir unterschiedliche Perspektiven der Germanistik weltweit aus erster Hand. Diese fließen in unsere Programmentwicklung ein.“
Denn ob Baltikum, Nordeuropa, Japan oder Nordamerika: Die Bedingungen und das Interesse für die deutsche Sprache sind sowohl in Europa als auch weltweit ganz unterschiedlich. „Dessen sind wir uns bewusst“, sagt Fathy, „daher treiben wir die Förderung mit einem sehr vielfältigen Germanistikportfolio mit über 26 Programmen voran.“ Und Lobin ergänzt: Wie bei allen europäischen Sprachen gebe es immer wieder Veränderungen bei der Anzahl der Deutschlernenden in Europa. Umso wichtiger sei es, die Entwicklung der Muttersprache kontinuierlich zu dokumentieren und zu erforschen sowie die Ergebnisse mit Deutschlehrenden zu teilen.
Dr. Hebatallah Fathy leitet im DAAD das Referat Germanistik, deutsche Sprache und Lektorenprogramme.
Sprachentwicklung erkennen und weitergeben
Das Leibniz-Institut für deutsche Sprache tut dies auf verschiedenen Ebenen und gibt sowohl Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, Grammatikautorinnen und -autoren als auch Hochschullehrenden Materialien und Dokumentationen an die Hand, die sie für die Vermittlung des Deutschen, die Entwicklung von Lehrmaterial und für die Forschung anwenden können. Dazu gehören unter anderem unterschiedliche Spezialwörterbücher, zum Beispiel das Neologismen-Wörterbuch, das seit über 30 Jahren die aktuelle Wortschatzentwicklung nachvollzieht. Oder „Grammis“, das wissenschaftliche Online-Informationssystem zur deutschen Grammatik, das aktuelle Forschungsergebnisse, Erklärungen und Hintergrundwissen präsentiert. Mithilfe digitaler Sprachsammlungen, sogenannter Korpora, die Milliarden von Wörtern umfassen, lassen sich zudem Rückschlüsse auf die Sprachentwicklung ziehen.
Wichtige Rolle der Übersetzungs- und Dolmetscherdienste
Wenn die EU nicht nur ein lockerer Staatenbund, sondern ein echter Verbund sein möchte, dann braucht Europa auch eine europäische Öffentlichkeit, die über die Grenzen der einzelnen Sprachgruppen hinweg miteinander öffentliche Themen aushandelt. Wie man das sprachlich regelt? Hier sieht Lobin mehrere Optionen: Neben einer vereinfachten, europäischen Variante des Englischen als Lingua franca vor allem die Förderung von gezielter Zweisprachigkeit, für Deutschland beispielsweise mit den großen Nachbarländern Frankreich und Polen. Außerdem spielen Übersetzungs- und Dolmetscherdienste für ihn eine wichtige Rolle, um nicht in radebrechendes Englisch zu verfallen.
Astrid Hopp (10. Juni 2021)
Der DAAD und die Germanistik
- Beirat Germanistik: Der international besetzte Beirat Germanistik berät den DAAD in der Förderpolitik zum Schwerpunktbereich Germanistik und Deutsche Sprache im Ausland. Im Beirat sind Professorinnen und Professoren der unterschiedlichen Teildisziplinen der Germanistik und angrenzender Fachgebiete vertreten. Er wird vom DAAD-Vorstand für vier Jahre berufen.
- Germanistische Begegnungstagungen: Die regelmäßig stattfindenden germanistischen Begegnungstagungen des DAAD bieten Hochschulgermanistinnen und -germanisten einer jeweils ausgewählten Weltregion eine Plattform für den länder- und disziplinübergreifenden Austausch zu aktuellen fachlichen und fachpolitischen Themen aus Germanistik, Deutsch als Fremdsprache und Deutschlandstudien. Die nächste Begegnungstagung wird voraussichtlich im November 2022 für die Region Südostasien in Bangkok, Thailand, stattfinden.