„Gesamtzahl der internationalen Studierenden in Deutschland trotz Corona gestiegen“
Eric Lichtenscheidt
Dr. Jan Kercher ist DAAD-Experte für externe Studien und Statistiken.
Wie hat sich die Pandemie auf die internationale Mobilität von Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hierzulande ausgewirkt? Zahlen zu dieser Frage präsentiert die aktuelle Publikation „Wissenschaft weltoffen 2021“, über die wir mit dem DAAD-Experten Dr. Jan Kercher gesprochen haben.
Herr Dr. Kercher, steht mittlerweile fest, welchen Einfluss die Coronapandemie auf die internationale Studierendenmobilität in Deutschland hatte?
Ein abschließendes Urteil hierzu ist derzeit noch nicht möglich, da wir uns ja leider nach wie vor in der Pandemie befinden und uns vermutlich auch noch eine vierte Welle bevorsteht. Allerdings können wir mittlerweile etwas dazu sagen, wie sich die Coronapandemie in den ersten beiden Coronasemestern, also dem Sommersemester 2020 und dem Wintersemester 2020/2021, auf die Studierendenmobilität in Deutschland ausgewirkt hat. Und da zeigt sich, dass es insgesamt keinen Rückgang bei der Zahl der internationalen Studierenden gab, weder im Sommersemester noch im Wintersemester. Im Gegenteil: Die Gesamtzahl der internationalen Studierenden in Deutschland ist trotz Corona gestiegen. Das würde ich als überraschend, aber natürlich auch als sehr erfreulich bezeichnen.
Und wie kann man diesen überraschenden Befund erklären?
Schaut man sich die Zahlen etwas genauer an, dann wird klar, dass es durchaus einen deutlichen Rückgang bei den internationalen Studienanfängerinnen und -anfängern gab: um 41 Prozent im Sommersemester und um 19 Prozent im Wintersemester – im Vergleich zum jeweiligen Vorjahressemester. Diese Rückgänge betrafen jedoch in erster Linie die Gast- und Austauschstudierenden und nur in deutlich geringerem Ausmaß die Regelstudierenden, die in Deutschland einen Hochschulabschluss erwerben wollen. Ein Rückgang bei den Gast- und Austauschstudierenden wirkt sich aber viel weniger auf die Gesamtzahl der internationalen Studierenden aus, da diese Studierenden ja ohnehin meist nur ein oder maximal zwei Semester in Deutschland verbringen. Zudem vermuten wir, dass viele der internationalen Studierenden, die zu Beginn der Coronapandemie bereits in Deutschland waren, ihre ursprünglichen Pläne geändert haben oder ändern mussten. Vermutlich haben zum Beispiel viele Bachelorabsolventinnen und -absolventen – anders als ursprünglich geplant – direkt mit einem Masterstudium begonnen, statt mitten in der Pandemie nach einem Job zu suchen. Wegen Corona sind also vermutlich mehr internationale Studierende im deutschen Studiensystem verblieben, als das sonst der Fall gewesen wäre.
Lässt sich auch schon etwas über die Ausreisemobilität der Studierenden in Deutschland in Zeiten von Corona sagen?
Ja, auch da haben wir mittlerweile eine etwas bessere Datenlage, allerdings nur im Bereich der sogenannten Credit Mobility, also der temporären studienbezogenen Auslandsmobilität, beispielsweise im Rahmen des Erasmus-Programms. Denn für die Erfassung der sogenannten Degree Mobility, das heißt der abschlussbezogenen Auslandsmobilität deutscher Studierender, sind wir auf hochschulstatistische Daten der jeweiligen Gastländer angewiesen, und die hinken immer um ungefähr ein Jahr oder sogar länger hinterher. Das Beispiel der Schweiz, des einzigen wichtigen Gastlandes, für das bis zur Drucklegung von „Wissenschaft weltoffen 2021“ schon Studierendendaten zum Wintersemester 2020/2021 vorlagen, zeigt jedoch: Es kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass es aufgrund der Pandemie generell zu einem deutlichen Rückgang der Zahl der Degree Mobility deutscher Studierender gekommen ist. Denn im Wintersemester 2020/2021 waren in der Schweiz rund vier Prozent mehr deutsche Studierende eingeschrieben als im Jahr zuvor.
Und wie hat sich die von Ihnen erwähnte Credit Mobility der Studierenden aus Deutschland seit Beginn der Coronapandemie entwickelt?
Da können wir vor allem etwas zur Entwicklung im Erasmus-Programm sagen, das ja für sich genommen das wichtigste Förderprogramm im Bereich der Credit Mobility ist. Im Vor-Corona-Jahr 2019 lag die Zahl der regulär durchgeführten und nicht vorzeitig beendeten Erasmus-Aufenthalte bei rund 41.000. Im Coronajahr 2020 konnten hingegen nur rund 21.000 reguläre Aufenthalte realisiert werden. Angesichts der widrigen Bedingungen halte ich allerdings schon das für einen beträchtlichen Erfolg, schließlich hatten zahlreiche Hochschulen im Ausland vorübergehend keinerlei Erasmus-Studierende mehr aufgenommen. Neben den regulär, das heißt vollständig in Präsenz durchgeführten Aufenthalten, gab es ab Mitte 2020 auch die Option, Erasmus-Aufenthalte hybrid oder komplett virtuell durchzuführen. Ein Teil der Studierenden hat von diesen Optionen Gebrauch gemacht, allerdings handelt es sich zusammengenommen gerade einmal um rund vier Prozent aller Erasmus-Aufenthalte seit Mitte 2020. Daran sieht man auch: Der allergrößte Teil der Erasmus-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer wollte offensichtlich trotz Corona einen regulären Präsenzaufenthalt durchführen.
Kann man auch schon sagen, wie sich Corona auf die internationale Wissenschaftlermobilität in Deutschland ausgewirkt hat?
Ja, auch hierzu haben wir im Rahmen von „Wissenschaft weltoffen“ mittlerweile erste Daten erheben und auswerten können. Allerdings gilt hier ähnlich wie bei den Studierendendaten: Aussagen lassen sich bislang vor allem zu den kurzfristigen Gastaufenthalten treffen und nicht zur längerfristigen Mobilität, die sich dann auch in Form von vertraglichen Beschäftigungsverhältnissen an Hochschulen oder sonstigen Forschungseinrichtungen ausdrückt. Zu den eher kurzfristigen und geförderten Gastaufenthalten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern führen wir im Rahmen von „Wissenschaft weltoffen“ jedes Jahr eine Abfrage unter den relevanten Förderorganisationen durch. Und hier zeigte sich, dass es im Jahr 2020 wohl vor allem bei der Ausreise-Mobilität aus Deutschland zu starken Rückgängen der Förderung gekommen ist, deutlich weniger hingegen bei der Einreise-Mobilität nach Deutschland. Der Grund hierfür dürfte sein, dass es den in Deutschland ansässigen Förderorganisationen, die wir befragt haben, leichter fällt, Gastaufenthalte im eigenen Land zu organisieren und zu betreuen als in einer Vielzahl ausländischer Staaten mit zum Teil sehr unterschiedlichen und sich ständig verändernden Pandemiebedingungen und -regelungen.
(4. Oktober 2021)