„Afghanistan ist ein komplexes Land“
DAAD/Letcher Lazo
Dr. Christian Hülshörster leitet im DAAD den Bereich Stipendienprogramme Süd.
Seit 2002 hat der DAAD rund 50 Millionen Euro in den Hochschulaufbau Afghanistans investiert. Was bleibt davon? Fragen an Dr. Christian Hülshörster, Leiter des Bereichs Stipendienprogramme Süd im DAAD.
Herr Dr. Hülshörster, wie begann die Arbeit des DAAD 2002 in Afghanistan, und wie muss man sich den Hochschulaufbau vorstellen?
Wir trafen 2002 einen gigantischen Bedarf bei den Hochschulen in Afghanistan an. Es fehlte an allem, angefangen bei den Räumlichkeiten, über moderne Curricula bis zur Hardware, vor allem in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, in der Medizin und der IT. Afghanische Lehrende hatten oft maximal einen Bachelor-Abschluss. In Intensivkursen wurde ihnen didaktisches und fachliches Know-how vermittelt. Das Angebot diente auch dazu, die Bedürfnisse der Dozentinnen und Dozenten besser kennenzulernen. Dazu kamen hohe Investitionen in die Ausstattung der Hochschulen. Normalerweise ist der DAAD auf Weiter- und Ausbildung fokussiert, aber hier führte kein Weg am Infrastrukturaufbau vorbei. Im Anschluss an diese Anfangsphase wurden Fachbereichskoordinationen etabliert, die für die nächsten zehn bis 15 Jahre die DAAD-Arbeit prägten.
Um welche Fächer ging es bei diesen Koordinationen?
Die beiden größten Schwerpunkte waren die IT, die von der TU Berlin koordiniert wurde, und die Wirtschaftswissenschaften, für die die Ruhr-Universität Bochum (RUB) tätig war. Beginnend mit der Universität Kabul wurden an sechs Hochschulen IT-Zentren eingerichtet beziehungsweise wurde ein landesweiter Lehrplan für Wirtschaftswissenschaften entwickelt. Aus einer Koordination in der Geografie, die die Universität Gießen übernahm, entstand der „Nationalatlas Afghanistan“, der Kenntnisse der physischen, ökonomischen und politischen Geografie des Landes zusammentrug. Außerdem gab es Koordinationen für Deutsch als Fremdsprache (RUB, Universität Duisburg-Essen, Universität Jena) und Medizin (Universität Freiburg).
Welche Ziele hatte die Arbeit des DAAD in Afghanistan?
Es ging uns zuallererst darum, moderne, qualitätsgesicherte Studiengänge zu etablieren, die den internationalen Standards entsprechen. Dazu gehörte es, gemeinsam mit afghanischen Lehrenden Curricula zu entwickeln. Maßgeblich war dabei, die Dozentinnen und Dozenten auszubilden, die diese Curricula unterrichten können. Wir haben ganz klassisch Projekt- und Individualförderung kombiniert.
Was prägte die Arbeit der letzten 20 Jahre?
Afghanistan ist ein komplexes Land. Es existieren Rivalitäten zwischen den verschiedenen Ethnien, Korruption ist ein allgegenwärtiger Verdacht. Bei der Auswahl von Stipendiatinnen und Stipendiaten provoziert das Diskriminierungsvorwürfe, obwohl wir ein transparentes Auswahlverfahren haben. Dazu kamen häufige personelle Wechsel bei den afghanischen Entscheidern, die dazu führten, dass Verhandlungen immer wieder von vorn begannen, weil neue Amtsinhaber sich an die Zusagen ihrer Vorgänger nicht gebunden fühlten.
Die Aufnahme von 2013 zeigt das „Ministry of Higher Education“ in Kabul mit dem DAAD-Verbindungsbüro.
Erfolgte die Zusammenarbeit zwischen deutschen und afghanischen Universitäten vor Ort in Afghanistan?
Eindeutig: Zwischen 2002 und 2015/2016 waren stellenweise recht viele deutsche Professorinnen und Professoren sowie wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Afghanistan. Die Dauer der Aufenthalte variierte dabei natürlich – von wenigen Tagen bis zu Jahren. Diese starke Präsenz führte dazu, dass der DAAD um das Jahr 2005 ein Gästehaus auf dem Campus der Universität Kabul eingerichtet hat. Es verfügte über zehn kleine Appartements, es gab Gemeinschaftsräume und einen wunderbaren Garten, von dem die früheren Gäste immer noch schwärmen, weil man an schönen Sommertagen den schneebedeckten Hindukusch sehen konnte.
Was ist daraus geworden?
Ab etwa 2015 wurde die Sicherheitslage immer schwieriger. Trotz seiner geschützten Lage auf dem Campus in Nachbarschaft zum Hochschulministerium mussten wir Sicherheitskräfte für das Gästehaus organisieren, und irgendwann war der Betrieb des Hauses nicht mehr verantwortbar. Fahrten vom Flughafen in die Stadt durften beispielsweise nur noch mit gepanzerten Fahrzeugen durchgeführt werden. Vor dem Hintergrund dieser Sicherheitsauflagen ging auch die Bereitschaft deutscher Hochschulangehöriger zurück, nach Afghanistan zu reisen. Den endgültigen Schlusspunkt hat dann der große Anschlag 2017 auf die deutsche Botschaft in Kabul gesetzt. Seitdem haben auch keine DAAD-Mitarbeitende und -Geförderte mehr Afghanistan betreten, und das DAAD-Büro mussten wir leider schließen.
Wie nachhaltig sind die Maßnahmen des DAAD in Afghanistan gewesen?
Wir haben in Afghanistan in die Ausbildung und Weiterbildung von Menschen investiert, das war und ist immer nachhaltig. Ganz unabhängig davon, ob diese Menschen ihre Zukunft in Afghanistan oder an anderer Stelle auf der Welt finden: Durch ihre akademische Ausbildung haben wir einen positiven Beitrag geleistet. Was die Projektförderung angeht, kann man noch kein Fazit ziehen. Der größte Teil des Geldes ist in die IT-Zentren geflossen. Da hatten wir neben der Investition in die Ausbildung des Personals auch massive Infrastrukturkosten, etwa für Computer, die Installation von Netzwerkservern und Klimaanlagen. Was aus diesen Zentren wird, ist unklar und hängt auch davon ab, ob weiterhin qualifiziertes Personal da ist, um sie weiter zu betreiben. Aktuell findet ein gigantischer Brain-Drain statt. Auch bei anderen Meilensteinen wie dem Curriculum für Wirtschaftswissenschaften, ist unklar, was die Taliban vorhaben. Sie lösen aktuell die Hochschulleitungen ab. Die Frage ist, ob auch die Lehrenden betroffen sind.
Beteiligt sich der DAAD aktuell an Hilfsaktionen im Land?
Nein. Wir unterstützen aber Afghaninnen und Afghanen, die das Land verlassen, zum Beispiel über das Hilde-Domin-Programm. Aktuell stehen auch Angebote in der Region zur Debatte, beispielsweise Stipendien für ein Studium in den Nachbarländern. Ob es in Pakistan oder im Iran solche Angebote geben wird, ist politisch schwierig. Als dritten Punkt plant der DAAD ein Leadershipangebot zur Vorbereitung der jungen afghanischen Bevölkerung auf eine Post-Taliban-Zeit. Das Konzept hat sich in der Förderung geflüchteter Syrerinnen und Syrer als sinnvoll erwiesen. In einem geschützten Raum soll über Fragen der künftigen afghanischen Gesellschaft gesprochen werden, ergänzt um ein Soft-Skill-Training, das die Integration der Teilnehmenden in den deutschen Arbeitsmarkt erleichtern soll.
(13. Oktober 2021)
Dieser Beitrag erschien zuerst in „Forschung & Lehre“.