Deutschlandforschung in Porto Alegre

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Porto Alegre im Bundesstaat Rio Grande do Sul: Die Region gilt nicht nur als einer der wichtigsten Wissenschaftsstandorte Brasiliens, sondern hat auch eine besondere historische Verbindung zu Deutschland: Dorthin wanderten Anfang des 19. Jahrhunderts viele Deutsche aus.

Vor mehr als 30 Jahren nahmen an den US-amerikanischen Universitäten in Berkeley, Georgetown und Harvard die ersten drei Zentren für Deutschland- und Europastudien (ZDES) ihre Arbeit auf. Die aus Mitteln des Auswärtigen Amts (AA) finanzierte Förderung der ZDES durch den DAAD hat inzwischen zu einem weltumspannenden Netz aus insgesamt 20 Zentren geführt. Anlässlich des Jubiläums stellen wir in einer Serie stellvertretend drei der Standorte näher vor und präsentieren im ersten Teil das jüngste und in Lateinamerika bislang einzige Zentrum für Deutschland- und Europastudien: das CDEA Porto Alegre in Brasilien.

Zu erfahren, wie andere Länder das gegenwärtige Deutschland wahrnehmen, sich darüber interdisziplinär auszutauschen und auf wissenschaftlicher Ebene Freundinnen und Freunde Deutschlands im Ausland zu finden – das sind die wichtigsten Ziele der 20 weltweit vertretenen Zentren für Deutschland- und Europastudien. „Heute, 30 Jahre nach Programmstart, bilden sie ein einzigartiges Netzwerk von Einrichtungen an herausragenden akademischen Standorten, wo sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen und Disziplinen alle mit der Rolle Deutschlands beschäftigen“, sagt Georg Krawietz, Leiter des DAAD-Referats Projektförderung deutsche Sprache und Forschungsmobilität (PPP).

Startschuss in Südamerika
Seit rund vier Jahren knüpft auch das Centro de Estudos Europeus e Alemães (CDEA) in Porto Alegre an diesem Netz mit. Es ist das erste Zentrum in Lateinamerika und das erste auf der südlichen Erdhalbkugel. „Dieser Schritt war längt überfällig“, sagt Zentrumsleiterin Claudia Lima Marques. „Aufgrund unserer geografischen und geopolitischen Lage wollen wir interdisziplinär zu aktuellen Themen der kulturellen Diversität, der Nachhaltigkeit und der Globalisierung grenzüberschreitend forschen“, erläutert die Rechtswissenschaftlerin. Dabei sind insbesondere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Jura, Philosophie, Soziologie und Politik eingebunden. Marques vertritt ihrerseits zugleich die Bundesuniversität Universidade Federal do Rio Grande do Sul (UFRGS), die das CDEA gemeinsam mit der päpstlich-katholischen Pontificia Universidade Católica do Rio Grande do Sul (PUCRS) trägt.

Die Entscheidung für diese Kooperation kam nicht von ungefähr. „Beide Hochschulen hatten schon lange vor der CDEA-Gründung verschiedene Kooperationen mit Universitäten in Deutschland“, berichtet Draiton Gonzaga de Souza, stellvertretender CDEA-Leiter und Philosophieprofessor an der PUCRS. Aus diesem Grund waren auch die Kolleginnen und Kollegen beider Hochschulen untereinander schon immer sehr gut vernetzt. „Mit dem neuen Zentrum bekamen wir 2017 die Chance, diese partnerschaftlichen Beziehungen auf eine sichere finanzielle Basis zu stellen.“ Heute arbeiten im CDEA insgesamt 58 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen, forschen und lehren in unterschiedlichen Promotions- und Masterprogrammen beider Universitäten. Neben der Gewinnung neuer Erkenntnisse geht es hierbei nicht zuletzt darum, deutschlandkompetenten Nachwuchs akademisch aus- und fortzubilden.

Deutschlandforschung in Porto Alegre

Gerardo Lazzari

Die Rechtswissenschaftlerin Claudia Lima Marques leitet das Centro de Estudos Europeus e Alemães (CDEA) in Porto Alegre.

Eine besondere Nähe zu Deutschland
Der Standort Porto Alegre konnte bei der Bewerbung nicht nur überzeugen, weil der Bundesstaat Rio Grande do Sul als einer der wichtigsten Wissenschaftsstandorte Brasiliens gilt. Es existiert zudem eine spezielle historische Verbundenheit zu Deutschland: 1824 kamen viele deutsche Auswanderinnen und Auswanderer aus dem Saarland und dem Hunsrück in den brasilianischen Bundesstaat, um sich hier eine Zukunft aufzubauen. Orte wie São Vendelino oder Novo Hamburgo sind bis heute Zeugen dieser Migration – von den schätzungsweise rund drei Millionen Brasilianerinnen und Brasilianern mit deutschen Wurzeln in Rio Grande do Sul einmal abgesehen. Deutsch-brasilianische Freundschaft im wahrsten Sinne leben aber auch die beiden Zentrumsverantwortlichen: Sowohl Marques als auch de Souza haben in Deutschland studiert und dort ihre Ehepartner kennengelernt. De Souzas inzwischen beinahe drei Jahrzehnte andauernde umfangreiche interdisziplinäre Arbeit zur Förderung der akademischen Zusammenarbeit zwischen Brasilien und Deutschland hat jüngst sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt.

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Draiton Gonzaga de Souza, stellvertretender CDEA-Leiter und Philosophieprofessor an der Pontificia Universidade Católica do Rio Grande do Sul (PUCRS), wurde 2021 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Wertvolle rechtsvergleichende Studien
Über Forschungsprojekte, Konferenzen und Vorträge bringen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des CDEA ihr Deutschlandwissen einem breiten Publikum näher. Von Anfang an spielte aber auch die Lehre eine entscheidende Rolle. So gibt es seit September den Aufbaustudiengang „Menschenrechte, soziale Verantwortung und Global Citizenship“, den pro Jahr zehn Studierende absolvieren können. Bereits etabliert ist zudem ein eigener Masterstudiengang zum deutschen und europäischen Recht, in den sich pro Kurs bis zu zehn Studierende einschreiben können. Im Juli hat Marcela Joelsons ihren Abschluss gemacht. „Ich hatte vorher an der UFRGS Rechtswissenschaften studiert und meinen Forschungsschwerpunkt auf den Schutz personenbezogener Daten gelegt“, erzählt die 36-Jährige. Am CDEA konnte sie diesen Fokus durch rechtsvergleichende Forschungen vertiefen. „In Deutschland gibt es bereits seit den 1970er Jahren ein Datenschutzgesetz, in Brasilien erst seit 2018.“ Mit Unterstützung des CDEA konnte sie für ihre Dissertation zu dem Thema auch einen Monat an der Justus-Liebig-Universität in Gießen recherchieren. Aktuell arbeitet sie in einer brasilianischen Kanzlei und will sich dort weiter zur Anwältin für Datenschutz qualifizieren. Auch eine spätere Professur an der UFRGS kann sich Marcela Joelsons vorstellen.

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Die Rechtswissenschaftlerin Marcela Joelsons konnte am CDEA ihren Forschungsschwerpunkt, den Schutz personenbezogener Daten, vertiefen.

Einfluss auf die Gesellschaft nehmen
Draiton Gonzaga de Souza geht davon aus, dass viele CDEA-Absolventinnen und -Absolventen das Zeug dazu haben, später fachlich hochqualifizierte und einflussreiche Positionen vor allem in der Justiz oder im politischen Bereich zu übernehmen. Das Leistungsniveau sei bislang in allen Jahrgängen sehr hoch gewesen, was auch daran liege, dass das Auswahlverfahren streng sei. „Wir haben regelmäßig eine sehr hohe Bewerberzahl.“
Die Ausbildung des Nachwuchses gehört zum Herzstück des CDEA. „All unsere Veranstaltungen und Forschungen sind gezielt unseren drei Hauptthemen Nachhaltigkeit, Multikulturalität und Globalisierung zugeordnet. Wir können also dazu beitragen, dass die junge Generation an Entscheiderinnen und Entscheidern bei all ihrem späteren Wirken diese wichtigen Aspekte ganz automatisch mitdenkt“, so der Professor.

Zum CDEA-Nachwuchs im weiteren Sinne gehört auch der Philosophie-Doktorand João Henrique Salles Jung. Er hat an Sommerkursen des Zentrums teilgenommen und selbst verschiedene Veranstaltungen mitorganisiert. „Über das CDEA habe ich mein eigenes Netzwerk mit Forschenden auf der ganzen Welt erweitern können“, berichtet der 27-Jährige begeistert. Mit Unterstützung des Zentrums wird er demnächst zum ersten Mal selbst nach Deutschland reisen, um die Arbeit an seiner binational angelegten Promotion fortzusetzen.

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Philosophie-Doktorand João Henrique Salles Jung reist mit Unterstützung des CDEA zum ersten Mal nach Deutschland, um seine binational angelegte Promotion über die Möglichkeit einer globalen Ethik fortzusetzen.

Grenzenloser Austausch
Die Aktivitäten der CDEA-Forscherinnen und -Forscher sind indes längst nicht nur auf Brasilien und Deutschland beschränkt. „Wir laden regelmäßig Professorinnen und Professoren, Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie Studierende aus ganz Lateinamerika ein, mit uns gemeinsam zu arbeiten“, berichtet Claudia Lima Marques. Außerdem pflegen die Brasilianerinnen und Brasilianer einen engen persönlichen Austausch mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Zentren für Deutschland- und Europastudien weltweit. 2024 soll Porto Alegre zudem Gastgeber der im Zweijahresrhythmus stattfindenden Konferenz aller Zentren sein – genau 200 Jahre nach der Ankunft der ersten deutschen Auswanderer in Rio Grande do Sul.

Melanie Rübartsch (14. Oktober 2021)

Weitere Informationen

Deutschland verbindet – die Zentren für Deutschland- und Europastudien (ZDES)
Der DAAD fördert mit Mitteln des Auswärtigen Amts (AA) aktuell 20 interdisziplinäre Zentren für Deutschland- und Europastudien an herausragenden ausländischen Hochschulen. Die Zentren bilden Expertinnen und Experten für Deutschland und Europa aus und führen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit in der Beschäftigung mit Deutschland und Europa zusammen. 

Ziel des Programms: Die Zentren sollen eine neue Generation von Expertinnen und Experten mit fundierten Deutschland- und Europakenntnissen ausbilden, die den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs über Deutschland und Europa in ihrer Region mitprägen.
 
Inhalte: Die Zentren vergeben Stipendien an begabte Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, bieten innovative Master- und Doktorandenprogramme an und haben eine interdisziplinäre sowie gegenwartsbezogene Forschung an ihren Standorten implementiert. 
 
Der Beginn: Die ersten drei Zentren wurden 1990 als Centers of Excellence in den USA an den Universitäten Berkeley, Harvard und Georgetown gegründet. Die damalige Bundesregierung wollte die deutsch-amerikanischen Beziehungen intensivieren, insbesondere die Wissenschaftskooperation.

Das Netzwerk heute: Überblick über alle Standorte.