„Wir mussten viel Pionierarbeit leisten“

DAAD/Eric Lichtenscheidt

Ein ganz persönlicher Rückblick auf 20 Jahre: Der Stellvertretende Generalsekretär des DAAD Christian Müller geht in den Ruhestand.

Nach zwei Jahrzehnten beim DAAD verabschiedet sich der Stellvertretende Generalsekretär Christian Müller in den Ruhestand. In der Organisation hatte der studierte Germanist zahlreiche Funktionen inne – in Bonn, Berlin, Portugal und Brasilien. Im Interview blickt er ganz persönlich auf 20 Jahre DAAD zurück.

Bevor Sie 2002 zum DAAD in Bonn und damit auch zum internationalen Hochschulmarketing kamen, waren Sie Lektor für deutsche Sprache und Literatur in Aveiro, Portugal, sowie in Campinas und Rio de Janeiro, Brasilien. Wie kam es zu dem Wechsel hin zu neuen Themen und zurück in die Heimat?
Die Lektorate im Ausland sind zeitlich begrenzt, in der Regel auf fünf Jahre. Als diese Zeit für mich um war, suchte ich nach einer neuen Herausforderung. Nach zwei langen Auslandsaufenthalten wollte ich zurück nach Deutschland, am liebsten nach Bonn. Dieser Stadt war ich seit dem Studium sehr verbunden. Auch die Zusammenarbeit mit dem DAAD hatte ich immer als äußerst positiv erlebt. Das Thema „Internationales Hochschulmarketing“ interessierte mich ebenfalls, immerhin ging es hier um die Repräsentation des Wissenschaftsstandorts Deutschland im Ausland und die Vernetzung wichtiger Akteurinnen und Akteure in der Außenpolitik – es gab viele Möglichkeiten zur Pionierarbeit. 

Pionierarbeit ist ein schönes Stichwort. Welche Entwicklungen und Themen haben Ihre ersten Tage und Wochen beim DAAD geprägt?
Zum Beginn des neuen Jahrhunderts war viel Bewegung im DAAD. Die Versteigerung der Mobilfunk-Frequenzen durch den Bund spülte viel Geld in die öffentlichen Kassen, zum Beispiel des BMBF. So wurde im DAAD eine größere Zahl neuer Programme und Referate geschaffen. Im Fokus standen die Förderung neuer internationaler Studiengänge an deutschen Hochschulen, aber auch der „Export“ deutscher Studienangebote, wie es damals hieß. Dafür wurde allerlei getan. Die Bologna-Reform begann zu greifen, die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen kam voran. Der DAAD hat weltweit verfügbare Sprachtests für Deutsch auf den Weg gebracht und eine Prüfstelle für ausländische Hochschulzugangsberechtigungen gegründet. In dieser Dynamik trat ich meine Stelle im neu geschaffenen Referat für internationales Hochschulmarketing an. Auch das war neu. Wir mussten zunächst viel Aufbau- und Überzeugungsarbeit bei den Hochschulen leisten. Die Erkenntnis, dass Hochschulen sich aktiv präsentieren müssen und nicht darauf warten können, dass jemand irgendwo auf der Welt beschließt, in Deutschland zu studieren, setzte sich nur langsam durch. Auch bei der Suche nach geeigneten Instrumenten dafür gab es noch viele offene Fragen – wie sieht ein guter Internetauftritt aus, wie präsentiert man sich auf einer Messe, welches Informationsmaterial brauche ich? All diese Dinge, die heute selbstverständlich erscheinen, waren damals noch Neuland. 

In welchen Bereichen muss der DAAD heute vergleichbare Aufbauarbeit leisten?
Das ist eine gute Frage. Es gibt einige Themen, bei denen wir noch viel zu tun haben, an den Hochschulen, aber auch in der Gesellschaft. Ich spreche hier von globalen Herausforderungen wie Nachhaltigkeit, Diversität, Inklusion oder Digitalisierung. Gleichzeitig erleben wir eine größere Dynamik in der globalen Welt, mit der wir Schritt halten müssen. So hat etwa die Pandemie für viele Belastungen in der Lehre und im akademischen Austausch gesorgt; gleichzeitig sind viele neue digitale Formate entstanden. Auch darauf musste und muss sich der DAAD einstellen und schnell Antworten finden. Was uns, nebenbei bemerkt, sehr gut gelungen ist. Nun geht es darum, die künftigen Veränderungen und Lehren aus der Pandemie zu verstehen. Auch in der Internationalisierung tut sich einiges, weil sich die politischen Kräfteverhältnisse verändert haben. Die Rolle Chinas ist prägender geworden, gerade im globalen Süden, in Afrika oder Lateinamerika. Das gilt nicht nur wirtschaftlich oder machtpolitisch, sondern auch für den akademischen Austausch. In Europa hat sich zudem viel durch den Brexit verändert, aber auch durch neo-nationalistische Tendenzen in einigen Ländern. Für uns als international tätige Organisation wächst die Bedeutung von Analysen und Einordnungen: Wir müssen die internationale Politik verstehen, die Lage in den Ländern im Blick behalten und diese Expertise auch unseren Partnern zu Verfügung stellen. Hier müssen wir sicher keine Aufbauarbeit leisten, sondern das, was wir schon haben, produktiv weiterentwickeln.

Impressionen aus Christian Müllers Amtszeit als Stellvertretender Generalsekretär des DAAD

Sie waren nicht nur am Aufbau des internationalen Hochschulmarketings beteiligt, sondern von 2009 bis 2014 auch Leiter der Außenstelle in Rio de Janeiro. Wie kommt es zu der engen Verbindung zu Brasilien?
Ich habe eine ganz private Verbindung zu Brasilien, weil meine Frau Brasilianerin ist und wie ich Germanistin. Wir haben uns in Deutschland kennengelernt. Dazu kommt, dass ich als Lektor vorher in Portugal war und schon Portugiesisch sprach. Da lag Brasilien als Ziel nah. Das Land ist vielfältig und wunderschön, die Menschen sehr offen und lebensfroh. Es gibt – neben der lateinamerikanischen Kultur – unterschiedliche Einflüsse im Land: einerseits europäische Einflüsse durch die Kolonialgeschichte und Immigration, anderseits finden sich auch Impulse aus arabischen Ländern oder Japan. Diese Farbigkeit spiegelt sich auch in der Gesellschaft, der Lebensweise, der Gastronomie und der Kultur wider. 

Neben der Leitung der Außenstelle in Rio de Janeiro haben Sie in São Paulo auch das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus aufgebaut und geleitet. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Es war aus meiner Sicht eine sehr besondere Zeit. Damals gab es in Brasilien ein Gefühl des „erwachenden Giganten“. Das Land war auf dem Weg zu einer wirtschaftlichen Großmacht – durch seine Bodenschätze und Agrarprodukte. Plötzlich war viel Geld im Land, und davon haben auch die Hochschulen profitiert. Es wurden mehr Studienplätze und neue Studienangebote geschaffen, viele Delegationen deutscher Hochschulen kamen zu Besuch, auch der Bundespräsident war vor Ort. In dieser Zeit wurde das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus geschaffen, als Präsentationsplattform für Deutschland in ganz Lateinamerika. In dieser Dynamik vor Ort zu sein, war eine tolle Erfahrung – genau wie der Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien. Beim Tor von Mario Götze im Finale war ich sogar im Stadion. Gleichzeitig wurden am Ende meiner Arbeit auch die krisenhaften Entwicklungen im Land schon deutlicher. Entsprechend wenig überraschend ist für mich der aktuelle Abwärtskurs. Dennoch stimmt mich diese Krise traurig – gerade wegen der vielen klugen, kreativen jungen Menschen und des gewaltigen natürlichen Reichtums in Brasilien. 

Mit dem WM-Sieg der deutschen Fußballer in Brasilien kamen Sie zurück nach Deutschland, nun als Direktor für Strategie, später als Stellvertretender Generalsekretär. Was bleibt aus dieser Zeit in Ihrem Gedächtnis?
Es gab in dieser Zeit einige große „Krisen“, auf die wir reagieren mussten. Zum Beispiel kamen 2015 sehr viele Menschen auf der Flucht zu uns ins Land, verursacht etwa durch den syrischen Bürgerkrieg. Darauf wollten und mussten auch wir als DAAD reagieren. So haben wir Hochschulen bei eigenen Maßnahmen unterstützt, unter anderem bei Sprach- und Integrationskursen für Geflüchtete. In dieser Zeit sind einige spannende Ideen entstanden, von denen wir noch heute und in Zukunft profitieren. Natürlich stellen auch der Brexit und die Abkehr von multilateraler Zusammenarbeit enorme Aufgaben. Und auch die Coronapandemie brachte viele große Herausforderungen mit sich – von der Umstellung der Arbeitsorganisation innerhalb des DAAD bis zur Neuordnung des akademischen Austauschs. Schon jetzt werden Verschiebungen bei den Zielländern junger Studierender deutlich. Kurzum, die letzten acht Jahre waren durchaus kurzweilig und bisweilen turbulent. 

Wir haben über viele Ihrer Positionen beim DAAD gesprochen. Wie fällt denn Ihre persönliche Bilanz der vergangenen 20 Jahre aus?
Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich einen wesentlichen Teil meines beruflichen Lebens im DAAD verbringen durfte. Daher schaue ich mit großer Zufriedenheit auf die letzten 20 Jahre. Es gab immer neue Fragen und Herausforderungen, denen ich mich widmen konnte. Und ich hatte zudem das Glück, mit vielen tollen Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten. 

Interview: Birk Grüling (15. Dezember 2021)