Die Wissenschaftsfreiheit ist ein Spiegel der Gesellschaft
FAU
Die Datenanalyse des Academic Freedom Index (AFI) 2022 wurde vom Institut für Politische Wissenschaft FAU Erlangen-Nürnberg und Varieties of Democracy (V-Dem) Institut der Universität Göteborg erarbeitet.
Der Academic Freedom Index nimmt die weltweite Wissenschaftsfreiheit in den Blick. Die Daten gehen dabei zurück bis zu den Anfängen des modernen Hochschulwesens. Die Erkenntnisse aus dieser Analyse nutzt auch der DAAD bei der Beratung von Hochschulen zu internationalen Wissenschaftskooperationen.
2021 war kein sonderlich gutes Jahr für die Wissenschaftsfreiheit. Inzwischen leben zwei von fünf Menschen weltweit in Ländern, in denen die Wissenschaftsfreiheit zunehmend eingeschränkt wird. Das zeigt die aktuelle Datenanalyse des Academic Freedom Index (AFI), erstellt von Forschenden der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und des Varieties of Democracy (V-Dem) Instituts der Universität Göteborg. In nur zwei Ländern hat sich demnach in den letzten zehn Jahren die Wissenschaftsfreiheit merklich verbessert, und zwar in Gambia und Usbekistan. In 19 Ländern zeigt die Entwicklung dagegen deutlich nach unten. Darunter sind Staaten wie Russland, die Türkei, Indien oder Brasilien, in denen die Demokratie in den vergangenen Jahren stetig ausgehöhlt wurde. „Mit dem Erstarken autokratischer Regime gerät auch die Wissenschaftsfreiheit ins Wanken. Dieser Zusammenhang überrascht kaum. Mit großer Sorge betrachten wir, dass auch zunehmender Populismus und Nationalismus deutlich Spuren hinterlässt“, erklärt Dr. Lars Pelke, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft FAU Erlangen-Nürnberg. Auch in den USA oder in Großbritannien zeigt sich ein Negativtrend bei der Wissenschaftsfreiheit. So sei die selektive Finanzierung von Forschungsprojekten und Fächern ein wichtiges Machtinstrument, gerade auch in Wahlkämpfen, sagt der Politologe.
Dr. Lars Pelke, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft FAU Erlangen-Nürnberg.
Über 2.000 Länderexpertinnen und -experten wirken mit
Italien, Lettland, Schweden, die Slowakei und Deutschland bilden die Spitzengruppe des Academic Freedom Index. Myanmar, Syrien und Nordkorea finden sich am Ende des Rankings. Besonders tragisch: Myanmar gehörte bis zum Militärputsch im Jahr 2021 eher zu den Aufsteigern. In die Bewertung des Academic Freedom Index fließen fünf Indikatoren ein: die Freiheit der Forschung und Lehre, die akademische und kulturelle Ausdrucksfreiheit, die Freiheit des akademischen Austauschs und der Wissenschaftskommunikation, die Campus-Integrität sowie die institutionelle Autonomie von Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Die Einschätzungen zu 177 Ländern gehen bis ins Jahr 1900 zurück und stammen von über 2.000 Länderexpertinnen und -experten. Pro Jahr und Land gibt es im Schnitt zehn Beurteilungen. „Sie kommen in der Regel von Akademikerinnen und Akademikern, die selbst in dem Land leben oder sehr viel Erfahrung mit dem jeweiligen Wissenschaftssystem haben“, erklärt Pelke. Sie kodieren anonym, denn die Aussagen über das eigene Hochschulsystem könnten durchaus Folgen für die Karriere haben. Alle Daten zum Academic Freedom Index sowie Daten zum Stand der Demokratien sind auf v-dem.net online abrufbar und können von Forschenden auf der ganzen Welt frei verwendet werden. Eine weitere, wichtige Zielgruppe der Daten sind aus Sicht von Pelke Universitätsleitungen sowie politische Entscheiderinnen und Entscheider. Der Academic Freedom Index könne zum Beispiel helfen, evidenzbasierte Beschlüsse über neue Hochschulkooperationen zu treffen.
Belastbare Daten als Orientierungshilfe für Forschende
Auch beim DAAD werden die Daten aus Erlangen und Göteborg gerne genutzt, wie Christiane Schmeken, Direktorin Strategie im DAAD, bestätigt. So sei der Academic Freedom Index eine der Quellen des KIWi Kompasses „Keine roten Linien – Wissenschaftskooperationen unter komplexen Rahmenbedingungen“, den das DAAD-Kompetenzzentrum Internationale Wissenschaftskooperationen (KIWi) herausgegeben hat. Die Publikation richtet sich an Verantwortliche in Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen und gibt ihnen Kriterien für die Bewertung von Chancen und Risiken wissenschaftlicher Kooperationen an die Hand. Neben Einschätzungen von DAAD-Mitarbeitenden und Studien wie dem AFI verweist der Kompass auf weitere frei verfügbare Quellen, wie zum Beispiel die Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amts. „Gerade in weltpolitisch schwierigen Zeiten wie diesen sind verlässliche Bewertungsgrundlagen für akademische Zusammenarbeit sehr wichtig“, sagt Schmeken. Wie ein Land im AFI-Ranking abschneidet, sei dabei ein Kriterium unter vielen. Wichtig sei etwa auch, welche Forschungsergebnisse in einem Projekt gemeinsam erreicht werden könnten oder ob eine vertrauensvolle Zusammenarbeit möglich sei. Aus diesem Grund bietet der DAAD den Hochschulen neben gesammelten Daten und Fakten auch die Beratung im Gespräch.
Christiane Schmeken, Direktorin Strategie im DAAD.
Räume des freien Dialogs schaffen
Der DAAD berät jedoch nicht nur die deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Er ist auch selbst gefordert, Entscheidungen für oder gegen die Zusammenarbeit mit internationalen Partnerinstitutionen zu treffen. Im Sinne einer Außenwissenschafts-Realpolitik setzt sich der DAAD dafür ein, so weit wie irgend möglich Gesprächskanäle offen zu halten und Kooperationen fortzusetzen – auch unter autokratischen Vorzeichen. Denn auf diese Weise entstehen Räume des freien Dialogs und des gegenseitigen Verständnisses. Nur so können gesellschaftliche Gruppen erreicht werden, denen in dem Land ansonsten der Zugang zu Bildung verwehrt bliebe. Dass dieser Ansatz auch an Grenzen stoße, so Schmeken, habe sich jedoch in jüngster Zeit mehrfach erwiesen. So sehe der DAAD etwa mit staatlichen Stellen in Afghanistan oder in Russland derzeit keine Möglichkeit zur Zusammenarbeit. Mit Blick auf den Academic Freedom Index fügt sie hinzu: „Wenn die Wissenschaftsfreiheit messbar zurückgeht, ist dies ein Anzeichen dafür, dass sich eine Gesellschaft in einer Abwärtsspirale befindet, auch wenn dies auf der politischen Ebene noch nicht so deutlich sichtbar ist.“ Ein Abstieg im AFI-Ranking kann also auch eine Art Kooperationsfrühwarnsystem für Entscheiderinnen und Entscheider in den Hochschulen und Forschungseinrichtungen sein.
Birk Grüling (31. März 2022)