Afghanistan: Langjährige akademische Aufbauarbeit des DAAD zahlt sich aus

Der Fachbereich Informatik an der Kabul University im Jahr 2002.

Der DAAD förderte im Rahmen des akademischen Aufbaus in Afghanistan von 2002 bis 2020 die Informatikausbildung, unter anderem von Master- und PhD-Studierenden an der TU Berlin. Darüber hinaus baute die TU Berlin an fünf afghanischen Universitäten Rechenzentren auf, an denen mehr als 30.000 junge Menschen aus- und weitergebildet wurden. Diese Erfolgsgeschichte wurde voriges Jahr gestoppt, als die Taliban im August 2021 die Macht übernahmen. Und doch gibt es für so manche afghanischen IT-Expertinnen und -Experten eine berufliche Perspektive.

Alles begann im Jahr 2002. Damals initiierte Dr. Nazir Peroz, Leiter des Zentrums für internationale und interkulturelle Kommunikation (ZiiK) der TU Berlin, den Aufbau der akademischen Informatikausbildung in Afghanistan. Maßgeblich unterstützt vom DAAD und vom Auswärtigen Amt, gelang der TU Berlin eine beeindruckende Pionierarbeit: An den Universitäten Kabul, Herat, Balkh, Nangarhar und Kandahar entstanden Rechenzentren, PC-Pools, Informatik-Bibliotheken sowie Aus- und Weiterbildungen für IT-Fachpersonal. Das afghanische Hochschulministerium richtete ein IT-Department ein, um die Projekte zu koordinieren. 2007 wurde an der Universität Herat Afghanistans erste Informatik-Fakultät eröffnet. Erstmals konnten sich junge Menschen für einen Informatik-Bachelorstudiengang einschreiben. Parallel dazu startete die TU Berlin ein Informatik-Masterprogramm für afghanische Dozentinnen und Dozenten, die anschließend in ihre Heimat zurückkehrten und Studierende nach von der TU Berlin erstellten Lehrplänen unterrichteten. Die Machtübernahme der Taliban im August 2021 bereitete dieser Erfolgsgeschichte jedoch ein jähes Ende. „Ich fürchte, die akademische Aufbauarbeit von 20 Jahren könnte innerhalb von kürzester Zeit zunichte gemacht werden, denn die Taliban betrachteten Ende der 1990er-Jahre den IT-Sektor und Computer als Teufelswerk“, sagt Dr. Johannes Sczyrba, der beim DAAD für Afghanistan zuständige Teamleiter im Referat „Kooperationsprojekte Nahost, Asien, Afrika und Lateinamerika“. Es sei auch zu befürchten, dass die Lehrpläne massiv geändert und einzelne Fächer sogar ganz aus dem Fächerkanon gestrichen werden.

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Dr. Johannes Sczyrba ist Teamleiter Afghanistan, Irak, Pakistan im DAAD-Referat „Kooperationsprojekte in Nahost, Asien, Afrika und Lateinamerika“.

SAP-Weiterbildung der TH Brandenburg in Afghanistan
Doch das langjährige Engagement der TU Berlin, die über die Rechenzentren und das Masterprogramm insgesamt rund 30.000 junge Menschen ausgebildet hatte und ihnen damit eine berufliche Perspektive gab, war nicht umsonst. So nahmen im Sommersemester 2021 sieben afghanische Bachelorstudierende der Universität Kabul am Programm erp4students der Technischen Hochschule (TH) Brandenburg teil, bei dem Studierenden in Onlinekursen SAP-Kompetenzen, in diesem Fall der Programmiersprache ABAP, in Theorie und Praxis vermittelt werden. „Die Studierenden müssen innerhalb von vier Monaten komplexe Fallstudien lösen und erhalten im Erfolgsfall ein Zertifikat“, sagt Pouyan Khatami, der erp4students an der TH Brandenburg koordiniert. Die Bedingungen für die sieben Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Afghanistan seien zum Teil dramatisch gewesen. „Nach der Machtübernahme der Taliban mussten sie sich zu Hause verstecken und hatten ganz andere Sorgen, als den Kurs zu bestehen“, erzählt er. Zudem habe es im Land zwischenzeitlich auch Probleme mit der Internetverbindung gegeben. Erfreulicherweise konnten aber sechs der sieben Studierenden das Programm erfolgreich beenden. Lediglich eine Studentin musste vorzeitig aufhören, weil ihre Familie – nach der Machtübernahme der Taliban – der Meinung war, dass Frauen keine Ausbildung machen sollten. Dem guten Gesamteindruck tat das keinen Abbruch: „Die Studierenden aus Afghanistan waren deutlich besser als viele andere Teilnehmende aus dem Nahen und Mittleren Osten“, berichtet Khatami.

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Der Wirtschaftsinformatiker Pouyan Khatami leitet an der TH Brandenburg das Programm erp4students.

Gemeinsame Erfolgsgeschichte
Mittlerweile arbeiten diese sechs IT-Experten von Büros in Kabul und Herat aus als Software-Entwickler für die Kern AG, einen in Freiburg ansässigen Softwarehersteller für die Unternehmensplanung in den Bereichen Controlling, Finanzen, Vertrieb und Logistik. Die Firma hatte die Kurskosten für die Studierenden übernommen. „In Afghanistan leben sehr viele talentierte und gut ausgebildete IT-Kräfte sowie Entwicklerinnen und Entwickler, während es in Deutschland etwa in der SAP-Entwicklung einen Fachkräftemangel gibt“, sagt Joscha Greuel, Head of Solution Center Logistics bei der Kern AG. Dass es gelang, diese jungen Menschen fortzubilden und ihnen eine berufliche Perspektive zu bieten, ist aus seiner Sicht eine Erfolgsgeschichte, die viele Institutionen gemeinsam möglich gemacht hätten: „Die Studierenden kamen von einer afghanischen Universität, die der DAAD mit aufgebaut hat. Die TH Brandenburg hat den Kurs bereitgestellt, einer der Büroleiter wurde an der TU Berlin ausgebildet, die Kern AG hat die Kosten für die afghanischen Studierenden übernommen, die sich unglaublich engagiert haben – dieses Zusammenspiel ist großartig“, sagt er. 

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Kern AG

Joscha Greuel ist Head of Solution Center Logistics bei der Kern AG, einem Softwarehersteller aus Freiburg.

Mit Stipendien der TU Berlin nach Deutschland
Während die Software-Entwickler der Kern AG von Afghanistan aus unter erschwerten Bedingungen arbeiten, hat die TU Berlin nach der Machtergreifung der Taliban Stipendien an 62 afghanische Absolventinnen und Absolventen des früheren Masterprogramms der TU Berlin als Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler nach Deutschland vergeben. Rund 40 davon sind bereits in Deutschland, die restlichen warten in Drittländern auf ihre Einreise oder bereiten ihre Ausreise aus Afghanistan vor. „Angesichts der instabilen Lage vor Ort wollen wir sie in Sicherheit bringen und unterstützen, damit sie hier ihre wissenschaftliche Karriere vorantreiben oder als IT-Expertin und -Experte arbeiten können“, sagt Daniel Tippmann. Der Referent arbeitet an der TU Berlin im Referat „Transnationale Bildung und Internationaler Wissenstransfer“, das unter anderem die Aufgaben des ZiiK weiterführt. Rund eine Million Euro zusätzlich hat das TU-Präsidium für das Stipendienprogramm „Bridge IT-Integrationsprogramm für afghanische IT Alumni at Risk an der TU Berlin“ zur Verfügung gestellt, das über das INTEGRA-Programm des DAAD finanziert wird. In Weiterbildungs- und Beratungsangeboten werden die Absolventinnen und Absolventen sechs Monate lang zum Beispiel auf Promotionsvorhaben vorbereitet, können an Karrierecoachings und Deutschkursen teilnehmen oder sich mit Unternehmen vernetzen. 

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Daniel Tippmann arbeitet an der TU Berlin im Referat „Transnationale Bildung und Internationaler Wissenstransfer“, das unter anderem die Aufgaben des ZiiK weiterführt.

Das Stipendienprogramm der TU Berlin leistet wertvolle Hilfe. So erzählt eine afghanische Masterabsolventin, die als Managerin für System- und E-Mail-Sicherheit im Büro des afghanischen Präsidenten arbeitete, dass sie nach der Übernahme durch die Taliban ihre Arbeit nicht mehr fortsetzen konnte, da Frauen in Afghanistan insbesondere in Regierungsämtern nicht mehr beschäftigt sein dürfen. „Es war eine gute Gelegenheit für mich, dort zu arbeiten, vor allem in der IT-Abteilung des Präsidialamtes, wo außer mir alle Mitarbeiter männlich waren.“ Seit vier Monaten lebt sie nun in Berlin und forscht an der TU in der Fakultät Elektrotechnik und Informatik. Ein anderer Alumnus arbeitet als Systemadministrator und Forscher im IT-Bereich. Sein berufliches Ziel: „Ich möchte eine Initiative gründen, die Menschen mit begrenztem Zugang zu einer angemessenen Ausbildung eine IT-Ausbildung ermöglicht“, sagt er. Menschen aus kriegsgebeutelten und ärmeren Ländern sollen davon profitieren. 

Es sind positive Geschichten wie diese und die der Kern AG, die den DAAD-Teamleiter Johannes Sczyrba zuversichtlich stimmen. „Sie zeigen, dass unsere langjährige akademische Aufbauarbeit im Informatik-Sektor in Afghanistan nicht umsonst war.“

Benjamin Haerdle (10. Juni 2022)

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