„Science Diplomacy“ aktiv neu gestalten
Johannes Ratermann
Der DAAD hat ein Positionspapier zur Weiterentwicklung deutscher Außenwissenschaftspolitik veröffentlicht. DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee erklärt die Hintergründe und erläutert, welchen Anforderungen eine neue Außenwissenschaftspolitik in den 2020er Jahren genügen sollte.
Herr Professor Mukherjee, was gab den Anlass dafür, sich zum jetzigen Zeitpunkt Gedanken zu einer neuen deutschen Außenwissenschaftspolitik zu machen?
Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine hat eine Zäsur in der europäischen Geschichte eingeläutet, die Bundeskanzler Olaf Scholz als „Zeitenwende“ für Europa eingeordnet hat. Die deutsche Wissenschaft hat darauf unmittelbar und mit aller Entschlossenheit reagiert, doch bedauerlicherweise wird weder der Krieg eine flüchtige Episode darstellen, noch werden die Auswirkungen auf die internationalen wissenschaftlichen Beziehungen von kurzer Dauer sein. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, dass die Welt als globale Verantwortungsgemeinschaft handeln muss. Der internationale akademische Austausch und die wissenschaftliche Zusammenarbeit über Grenzen hinweg sind angesichts gegenwärtiger politischer Risse und globaler Herausforderungen notwendiger denn je. Zugleich sind Austausch und Zusammenarbeit komplizierter und riskanter geworden, doch für die Zukunft sind sie unabdingbar. Wir brauchen deshalb eine realpolitisch basierte „Science Diplomacy“. Sie muss sich bewusst den globalen Krisen, Verwerfungen und Systemrivalitäten und damit den Anforderungen einer sich verändernden Welt stellen.
„Science Diplomacy“ als Ansatz, die außenwissenschaftspolitischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland in einer globalisierten Welt zu gestalten, gab es auch bisher schon. Was ist jetzt neu?
Die Annahme, wertebasierte Zusammenarbeit habe zwangsläufig positive Effekte, hat sich als zu optimistisch erwiesen. Internationale Kontakte zwischen Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie zwischen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen führen nicht automatisch zu mehr Toleranz und gegenseitigem Verständnis, zu einem Mehrwert für alle Beteiligten oder gar zur Förderung liberaler, demokratischer Werte. Es braucht einen sensiblen Aushandlungsprozess und das Abwägen von Risiken, damit internationaler Austausch zur Lösung globaler Herausforderungen und – ja! – auch zur Vermittlung von Werten und Gestaltung von Freiräumen beiträgt. Wir müssen „Science Diplomacy“ künftig achtsamer und proaktiver als bisher gestalten.
Welchen Anforderungen muss eine Außenwissenschaftspolitik in den 2020er Jahren genügen?
Eine neue Außenwissenschaftspolitik sollte einen Raum aufspannen, in dem spezifische internationale Aushandlungen von akademischen, wissenschaftlichen und politischen Positionen und Zielen zwischen Partnern oder gelegentlich auch Konkurrenten auf Augenhöhe möglich sind. Sie darf aber nicht einseitig auf machtpolitische Interventionen ausgerichtet sein, sondern muss bestimmten Prinzipien genügen: Sie sollte wertebewusst, verantwortungsbasiert, interessengeleitet, regional differenziert und risikoreflexiv ausgelegt sein.
Was verbirgt sich hinter diesen fünf Prinzipien?
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich Werte wie Wissenschaftsfreiheit und wissenschaftliche Integrität im akademischen Austausch nicht von allein vermitteln. Deshalb sind Funktionsträgerinnen und -träger des deutschen Wissenschaftssystems, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Studierende aufgefordert, im persönlichen Kontakt oder bei öffentlichen Auftritten demokratische Werte und Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Sie sind als Teil der deutschen Zivilgesellschaft aufgefordert, im Ausland als „Science Diplomats“ zu agieren. Dies funktioniert aber nicht in allen Weltregionen gleichermaßen, sondern muss regionalspezifisch konkretisiert werden. Zudem sollten sich die Hochschulen und ihre Angehörigen als Teil einer globalen Verantwortungsgemeinschaft verstehen: Neue Außenwissenschaftspolitik muss den großen Herausforderungen unserer Welt wie dem Klimawandel, dem Rückgang von Biodiversität und dem Risiko von Pandemien begegnen und hier substanzielle Beiträge leisten.
Braucht es dafür nicht ein generelles strategisches Umdenken in der Außenwissenschaftspolitik?
Ja, gerade im Verhältnis mit Staaten, die Außenwissenschaftspolitik selbstbewusst machtpolitisch und geostrategisch einsetzen, müssen auf deutscher Seite akademische, wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Interessen klar definiert werden. Außenwissenschaftspolitik ist eben auch Interessenspolitik. Werte-, Verantwortungs- und Interessensorientierung schließen einander jedoch nicht aus, sie zielen in die gleiche Richtung: hin zu einer regional spezifischen Reflexion der Wirkungen, Chancen und auch der Risiken, die der internationale akademische Austausch birgt.
Wie setzt der DAAD diese neue Außenwissenschaftspolitik konkret in seiner Arbeit um?
Der DAAD verfügt weltweit über ein bewährtes und exzellentes Netz an Außenstellen und Informationszentren. Dies ist eine ganz wichtige Basis, weil vor Ort Vertrauen geschaffen und Expertise gesammelt wird und dort nicht nur ein wissenschaftlicher, sondern auch ein zivilgesellschaftlicher Dialog stattfindet. Diese Präsenz vor Ort schlägt Brücken auch zu jenen Staaten, zu denen wir eher in einem Konkurrenzverhältnis stehen. Der DAAD hat in jüngster Vergangenheit zudem sehr rasch auf aktuelle Krisen reagiert und Angebote für Studierende, Promovierende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgelegt, die besonders unter globalen Verwerfungen zu leiden haben. Dazu zählen zum Beispiel die „Nationale Akademische Kontaktstelle Ukraine“ oder das Hilde Domin-Programm, mit dem Studierende und Promovierende unterstützt werden, die ihr Studium oder ihre Forschung nicht fortführen können, weil sie in ihrer Heimat bedroht oder verfolgt werden. Der DAAD passt zudem sein Programmportfolio fortlaufend auch an Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft an, indem er zum Beispiel internationale Zentren zur Klima- und Gesundheitsforschung ausschreibt oder Programme zur Förderung von Führungskräften für Syrien oder für Afrika auflegt. Der DAAD beschäftigt sich also bereits jetzt mit den drängenden Themen unserer Zeit und wendet im regionalen und fachlichen Zuschnitt seiner Programme die genannten Prinzipien konsequent an. Diese Programme sind fachlich anspruchsvoll und verlangen eine professionelle Betreuung, legen aber gleichzeitig den Grundstein für eine langfristige vertrauensvolle Zusammenarbeit. Sie lassen sich aber nur umsetzen, wenn eine ausreichende und stabile Finanzierung auch in Zukunft gesichert ist. Hier müssen wir als verlässlicher Partner auftreten und sind dabei nicht zuletzt angewiesen auf die finanzielle Unterstützung durch die Bundesregierung, die den hohen Stellenwert der Arbeit des DAAD für die Außenwissenschaftspolitik zuletzt in ihrem Koalitionsvertrag bestätigt hat.
Interview: Benjamin Haerdle (11. Juli 2022)