Lehren der Vergangenheit
Andrea Artz
Prof. Dr. Martin Schulze Wessel ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU München.
Professor Martin Schulze Wessel, DAAD-Alumnus und einer der renommiertesten deutschen Kenner osteuropäischer Geschichte, über den Krieg in der Ukraine.
Herr Professor Schulze Wessel, der russische Angriff auf die Ukraine wurde nicht zuletzt mit dem Geschichtsbild Wladimir Putins erklärt. Welche Rolle spielt die Historie aus Ihrer Sicht bei diesem Krieg in Europa?
Die Geschichte bildet für Wladimir Putin den Rahmen seiner Kriegsziele. Aus einer sehr speziellen historischen Sichtweise leitet er die Vorstellung ab, dass es einen selbstständigen Staat Ukraine nicht geben darf. Dem kann man aber ein Narrativ entgegensetzen, das auf sicheren Füßen steht: Schon vor der über 30-jährigen Nationalgeschichte des heutigen Staats Ukraine gab es eine lange Tradition eigenständiger Strukturen: Besonders prägend ist aus meiner Sicht die Frühe Neuzeit, als die Ukraine Teil der polnisch-litauischen Adelsrepublik war. In dieser Zeit sind in der Ukraine westliche Strukturen übernommen worden, etwa die Partizipationsmöglichkeiten des Adels oder das westeuropäische Städterecht. Die Ukraine sammelte Erfahrungen, die sie deutlich vom russischen Zarenreich unterschieden.
Sie sind Co-Vorsitzender der im Februar 2015 gegründeten und vom DAAD geförderten Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission. Was konnte die Kommission in den letzten sieben Jahren erreichen – und wie geht es weiter?
Die deutschen Mitglieder der Historikerkommission haben in den vergangenen Jahren vor allem gelernt, die Ukraine viel umfassender zu begreifen, weit hinaus über ihre Geschichte als Teil des Zarenreichs oder der Sowjetunion. Ein Schwerpunkt innerhalb der Sowjetzeit war die Beschäftigung mit dem von Stalin herbeigeführten Holodomor („Tötung durch Hunger“) in den 1930er-Jahren. Die Arbeit der Kommission hat sich durch den Krieg intensiviert. Wir tauschen uns in kurzen Abständen aus und wollen für eine digitale Vorlesungsreihe auch mit Kolleginnen und Kollegen eines kanadischen Forschungszentrums kooperieren. Zudem planen wir in Zusammenarbeit mit dem Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung ein Programm zur Rettung und Archivierung ukrainischer Kulturgüter.
Im Sommersemester 2022 forscht Prof. Dr. Martin Schulze Wessel mit einem Richard von Weizsäcker Fellowship am St Antony‘s College in Oxford.
Welche grundsätzliche Bedeutung hat die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit den Ländern Ost- und Mitteleuropas für aktuelles Handeln?
Außenpolitik ist heute viel komplexer als im Kalten Krieg. Das gilt auch für die Politik innerhalb der EU. Die ost- und mitteleuropäischen Staaten, die in den vergangenen Jahren der EU beigetreten sind, haben ein völlig neues Element in diese Union eingebracht. Für Deutschland reicht es schon lange nicht mehr, Beziehungen zu den USA und Russland zu pflegen, gerade letztere haben sich ja als nicht tragfähig erwiesen. Komplexe internationale Situationen fordern aber auch historisches Urteilsvermögen ein; allein gegenwartsbezogene Bildung genügt nicht, um sich zum Beispiel mit Ländern wie der Ukraine, Polen, Tschechien oder der Slowakei zu verständigen. Und natürlich müssen wir auch weiterhin versuchen zu verstehen, was in Russland passiert.
1991, im Jahr, an dessen Ende die Sowjetunion aufhörte zu existieren, waren Sie Stipendiat des DAAD bei der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Es war für mich eine sehr prägende Zeit, natürlich auch wegen der politischen Großereignisse. So habe ich etwa gesehen, wie Ende 1991 die Flagge der Sowjetunion am Kreml eingeholt wurde. Auch aus wissenschaftlicher Sicht war die Zeit am damaligen Institut für Slawenkunde und Balkanistik in Moskau hochinteressant. Ich konnte in der Arbeitsgruppe eines herausragenden Fachmannes über die Beziehungen zwischen Russland, der Ukraine und Polen im 19. Jahrhundert forschen. Es ging um Völkerfreundschaft und die Rekonstruktion der Verbindungen, die emanzipatorische Bewegungen in den drei Ländern miteinander unterhielten. Leider ist aktuell ein wissenschaftlicher Austausch mit Russland nicht möglich, da sich das Land für den militärischen Weg entschieden hat.
Interview: Johannes Göbel (26. Juli 2022)
Dieses Interview wurde zuerst veröffentlicht im Magazin für DAAD-Alumni und -Alumnae Letter, Ausgabe 1/2022.