„Gemeinsam die Vergangenheit aufarbeiten“

Wilfried Hiegemann/DAAD

Der Grimm-Preisträger 2022, Dr. Kokou Azamede, und seine Laudatorin, Prof. Dr. Benedicte Savoy.

Dr. Kokou Azamede ist Dozent an der Université de Lomé in Togo. Am 27. September hat der DAAD ihm den Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preis verliehen. Wir haben ihn zum gemeinsamen Gespräch mit seiner Laudatorin, der Berliner Kunsthistorikerin Prof. Dr. Benedicte Savoy, getroffen.

Herr Dr. Azamede, wann und wie ist Ihr Interesse für die deutsche Sprache und Deutschland entstanden?
Kokou Azamede: Bereits in der Kindheit. In unserem Viertel in Lomé wohnte eine Familie aus Deutschland. Mit den vier Kindern haben wir sehr viel gespielt – wir waren oft bei der Familie zu Besuch. Ich habe sogar bis heute Kontakt zu diesen Kindheitsfreunden. Ein zweiter Bezug kommt über meinen Großvater. Er war Pastor der evangelischen Kirche in Togo, die wiederum aus der Norddeutschen Mission hervorgegangen ist. Aus diesem Grund befanden sich einige Bücher über deutsche Geschichte und die deutsche Missionsgeschichte in unserer Bibliothek – auf Deutsch und auf Ewe, einer der Landessprachen in Togo. Ich hatte schon als Jugendlicher großes Interesse an dem Thema und deshalb auch die Motivation, die deutschen Bücher lesen zu können.

Offenbar ein Thema, das Sie nicht mehr losgelassen hat.
Kokou Azamede: Das ist richtig. Ich habe dann nach dem Abitur Deutschstudien an der Université de Lomé studiert. Thema sowohl meiner Magister- als auch meiner Doktorarbeit war ebenfalls die Missionsgeschichte. Es gab eine Gruppe von Afrikanern, die im Dienst der Mission standen und zwischen 1884 und 1900 eine systematische christliche Ausbildung in Deutschland erhielten. Diese Menschen mussten sich zwischen den Kulturen bewegen. Ich habe sie als Ewe-Württemberger bezeichnet.

Seit 2008 sind Sie an der Université de Lomé als Dozent tätig. Ein wichtiger Schwerpunkt Ihrer Arbeit sind das Kolonialerbe und die Restitution von Kulturgütern aus der Kolonialzeit.
Kokou Azamede: Die Frage der Restitution war im Grunde eine logische Erweiterung meiner Forschungsarbeiten. Die Restitution bezieht sich auf Objekte, die während der Kolonialzeit von den Kolonialmächten gesammelt wurden. Es geht um materielle Spuren einer Geschichte, die bis heute nicht aufgearbeitet wurde – um historische Objekte, die sich zum Beispiel immer noch in deutschen Museen befinden, dort aber nicht sein sollten. Lösungen für Restitutionsfragen können wir aber erst finden, wenn wir wirklich anfangen, uns gemeinsam mit der Zeit des Kolonialismus auseinanderzusetzen, und die Vergangenheit gemeinsam aufarbeiten.

Und dieser Prozess ist noch nicht sehr weit vorangeschritten?
Kokou Azamede: In Afrika fordert man schon seit längerer Zeit, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. In den vergangenen Jahren ist nun auch in Deutschland einiges in Bewegung gekommen. Auslöser war unter anderem die Debatte um geplante Ausstellungen afrikanischer Artefakte aus kolonialen Kontexten im Berliner Humboldt Forum vor etwa fünf Jahren. Deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter Benedicte Savoy, und verschiedene Communities haben sich vehement dagegengestellt. Indem solche Objekte nach wie vor in deutschen Museen ausgestellt werden, wird der Kolonialismus immer noch legitimiert. Solche Debatten haben bewirkt, dass nun endlich ein Dialog auf Augenhöhe begonnen hat.

„Gemeinsam die Vergangenheit aufarbeiten“

Wilfried Hiegemann/DAAD


Dr. Kokou Azamede bei der Preisverleihung mit DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee.

Frau Professorin Savoy, Sie sind ebenfalls eine aktive Streiterin im Rahmen der Restitutionsdebatte. Kannten Sie Herrn Dr. Azamede bereits zuvor?
Benedicte Savoy: Ja, natürlich – aber bisher leider nur über Onlinetagungen während der Coronazeit. Vor allem im Rahmen eines Kooperationsprojekts meines Instituts mit der Universität Oxford – unter anderem über sogenannte koloniale Strafexpeditionen in Togo und deren Ertrag für deutsche Museen – haben wir bereits enger zusammengearbeitet. Im Zuge der Grimm-Preis-Verleihung haben wir uns nun bei meiner jüngsten Reise nach Westafrika endlich auch persönlich kennengelernt. Ich freue mich sehr darauf, unsere Zusammenarbeit künftig weiter auszubauen.

Herr Dr. Azamede, inwieweit hängt der Erfolg Ihrer Arbeit von Ihrem internationalen Netzwerk ab?
Kokou Azamede: Ganz entscheidend. Die Restitutionsproblematik ist keine rein wissenschaftliche Frage, sondern vor allem eine soziale. Darum arbeite ich nicht nur mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sondern mit sozialen Gemeinschaften zusammen. Zum Beispiel mit Theaterwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, Kuratorinnen und Kuratoren – allgemein mit Menschen, die sich für das Thema interessieren. Es geht darum, sich kulturell auseinanderzusetzen und damit zu erreichen, dass Menschen generell ihre Aufmerksamkeit auf die Kultur anderer richten. Deshalb bin ich tatsächlich viel in der ganzen Welt unterwegs. Allein in Deutschland bin ich sicherlich zwei- bis dreimal pro Jahr auf entsprechenden Konferenzen.

Frau Professorin Savoy, Sie haben die Laudatio für Herrn Dr. Azamede gehalten. Warum hat die Jury aus Ihrer Sicht die richtige Wahl getroffen?
Benedicte Savoy: Kokou Azamede gehört ohne Zweifel zu den führenden Germanisten im Ausland. Er ist ein ausgezeichneter, international erfolgreicher Wissenschaftler, er ist weit vernetzt und verbindet auf vorbildliche Weise Lehre und Forschung an einer beeindruckenden Universität. Vor allem aber hat er mit seinen Arbeiten zur deutschen kolonialen Gewalt in Togo die Restitutionsdebatte ein großes Stück vorangebracht. Es ist entscheidend, dass die afrikanische Seite und die ehemaligen Kolonialmächte endlich gemeinsam daran arbeiten.

Herr Dr. Azamade, was bedeutet Ihnen der Grimm-Preis?
Kokou Azamede: Das war eine sehr positive Überraschung. Ich sehe den Preis vor allem als Anerkennung der Bemühungen aller Germanistinnen und Germanisten in Afrika. Er ermutigt uns sehr, uns weiter in dieser Intensität mit deutsch-afrikanischer Geschichte auseinanderzusetzen. Der Preis zeigt auch bereits Wirkung: Ich bin insgesamt wirklich bekannter geworden. Und viele Kolleginnen und Kollegen wollen nun auch mehr über den DAAD wissen (lacht).

Benedicte Savoy: An der Stelle möchte ich auch betonen, dass Herr Dr. Azamede der erste Grimm-Preisträger aus Afrika-Subsahara ist – der erste nach 25 Jahren. Endlich! Was für eine großartige Gelegenheit, die Arbeit meines Kollegen in Deutschland und darüber hinaus noch sichtbarer zu machen, als sie ohnehin im Kreis der Experten ist. Die Auszeichnung von Kokou Azamede ist ein Signal für eine geowissenschaftliche Veränderung der Mentalitäten. Ich würde es begrüßen, wenn in den nächsten Jahren weitere Preisträgerinnen und Preisträger aus Afrika benannt würden.

Verbinden Sie in diesem Sinne eine besondere Verantwortung mit dem Preis, Herr Dr. Azamede?
Kokou Azamede: Das würde ich tatsächlich sagen. Ich vertrete die Germanistik in Afrika jetzt öffentlichkeitswirksam nach außen. Das ist für mich zugleich die Chance, als Botschafter einer interkulturellen Germanistik stärker in Erscheinung zu treten. Unsere Arbeiten müssen dazu beitragen, dass Menschen aus Deutschland und aus Afrika in mehreren Bereichen zusammenarbeiten können.

Benedicte Savoy: Für interkulturelle Germanistik möchte ich gerne ein gutes Beispiel nennen. Wer Leute sucht, die heute noch Sütterlin lesen können, findet sie zum Beispiel in einem Seminar für Sütterlinschrift, das Dr. Azamede an seiner Universität etabliert hat. Es sind mittlerweile Afrikanerinnen und Afrikaner, die uns helfen, dass Archivalien, die in dieser altdeutschen Handschrift geschrieben sind, weiterhin für uns lebendig und nutzbar bleiben. Das ist fantastisch. In Deutschland können das immer weniger Menschen.

Mit der Preisverleihung sind ein Preisgeld und ein Forschungsaufenthalt in Deutschland verbunden. Haben Sie bereits Pläne, Herr Dr. Azamede?
Kokou Azamede: Ich möchte nächstes Jahr gerne auf die Suche nach togoischen oder afrikanischen Spuren in Deutschland gehen. Es sollte einige togoische Einflüsse auf die deutsche Gesellschaft geben, die ich gerne sichtbar machen möchte. Togoische Christen der Norddeutschen Missionsgesellschaft erhielten zwischen 1884 und 1900 Missionsausbildungen in Baden-Württemberg und besuchten während ihrer Ausbildung verschiedene deutsche Städte. Sie machten mit den Kirchengemeinden und Menschen dort verschiedene Erfahrungen, die sie in ihren biografischen Daten beziehungsweise in offiziellen und privaten Korrespondenzen erwähnten. Wahrscheinlich haben sie Spuren hinterlassen, die nachverfolgt werden sollten.

Melanie Rübartsch (29. September 2022)

Zu den Personen

Dr. Kokou Azamede
Der 53-Jährige ist der erste Grimm-Preisträger aus Subsahara-Afrika. Er lehrt in Togos Hauptstadt an der Deutschabteilung der Université de Lomé. In seinen Kooperations- und Forschungsprojekten verbindet Dr. Azamede Ansätze der Literatur- und Kulturwissenschaften mit in der Region Westafrika besonders relevanten Themen wie Kolonial- und Missionsgeschichte und damit verbundenen historischen transkulturellen Kontaktsituationen. Auch in der Diskussion um die Restitution von Kulturgütern aus der Kolonialzeit ist er als Experte und interdisziplinärer Kulturmittler ein gefragter Gesprächspartner, sowohl für afrikanische Germanistinnen und Germanisten sowie Historikerinnen und Historiker als auch für europäische Institutionen, wie seine Teilnahme an diversen wegweisenden Konferenzen zeigt.

Prof. Dr. Benedicte Savoy
Die 50-Jährige leitet das Fachgebiet Kunstgeschichte der Moderne an der Technischen Universität Berlin. Von 2016 bis 2021 hatte sie zudem eine Professur am Pariser Collège de France für die Kulturgeschichte des künstlerischen Erbes in Europa vom 18. bis 20. Jahrhundert inne. Die gebürtige Französin – und Alumna des DAAD – gilt als maßgebliche und prominente Forscherin innerhalb der Restitutionsdebatte. Zuletzt erschien ihr Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage“.

Weitere Informationen

Der Grimm-Preis
Der DAAD verleiht den Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preis seit 1995 jedes Jahr an ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für herausragende Arbeiten auf dem Gebiet der germanistischen Literatur- und Sprachwissenschaft sowie in den Fachbereichen Deutsch als Fremdsprache und Deutschlandstudien. Der aus Mitteln des Auswärtigen Amts finanzierte Preis zeichnet diejenigen aus, die durch ihre Lehr- und Forschungstätigkeit im Ausland in besonderem Maße zur internationalen akademischen Kooperation und zur kulturellen Verständigung beigetragen haben. Neben dem Preisgeld in Höhe von 10.000 Euro erhalten die Ausgezeichneten eine Einladung zu einem Forschungsaufenthalt in Deutschland.

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