Friedenspreis in Kriegszeiten: Serhij Zhadan
Marcus Welsch
DAAD-Alumnus und Friedenspreisträger 2022 Serhij Zhadan und seine Lektorin im Suhrkamp Verlag, Katharina Raabe.
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 geht an den ukrainischen Schriftsteller, Lyriker und Musiker Serhij Zhadan. Die Verleihung fand am 23. Oktober 2022 im Rahmen der Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche statt. Katharina Raabe, seit 2000 verantwortliche Lektorin für das Osteuropa-Programm im Suhrkamp Verlag, spricht über Poesie, Wirklichkeit und eine der prägendsten Stimmen der osteuropäischen Literaturszene.
Frau Raabe, dank Ihrer Kenntnis und Leidenschaft für osteuropäische Literaturen ist Serhij Zhadan heute einem großen Publikum im deutschsprachigen Raum bekannt. Wie haben Sie ihn entdeckt?
Die LiteraturWerkstatt Berlin hatte mich eingeladen, im Mai 2002 einen Abend mit jungen ukrainischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu moderieren. Einer der Autoren, dessen Wohnort, Charkiw, ich vor der Veranstaltung im Atlas nachschlagen musste, war Serhij Zhadan, und die Gedichte, die er las, beeindruckten mich tief. Doch damals nahmen wir nicht ihn, sondern den Kurator der Veranstaltung, Juri Andruchowytsch, unter Vertrag – und den 18-jährigen Ljubko Deresch, dessen Roman Kult sich 7.500 Mal verkaufte. Ohne den Erfolg der beiden Kollegen hätten wir Zhadans Gedichte wohl kaum verlegen können. Sie erschienen 2006, übersetzt von Claudia Dathe, fast unbemerkt in der edition suhrkamp: Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts. 500 verkaufte Exemplare! Erst die Lesungen auf der Leipziger Buchmesse, exzellente Rezensionen und der Hermann-Lenz-Preis für junge osteuropäische Lyrik machten Zhadan ein wenig bekannt.
Was macht für Sie die Schönheit seiner Sprache aus?
Die lapidare, atmende Prosodie, die mich an die Lyrik der amerikanischen Beatgeneration erinnert. Der Ton seiner freien Verse ist unwiderstehlich, dieses Hingesprochene, durch und durch Musikalische. Auch Zhadan selbst hat mich fasziniert: ein schmaler, fast ausgemergelter junger Mensch im Cordjackett, der sich federnd und agil bewegte. Ich hatte das Gefühl, er trägt das Fluidum dieser Zeit in sich.
Lektorin Katharina Raabe verantwortet das Osteuropa-Programm im Suhrkamp Verlag.
Hat sich seine Sprache im Lauf der Jahre verändert?
Die Prosa, die anfangs anarchisch und ganz vom lyrischen Duktus getragen war, ist fester und in einem guten Sinn konventioneller geworden: Es gibt Charaktere, Handlungsfäden, Konflikte, atmosphärische Settings. Der jüngste Roman Internat, der vom Krieg handelt, ist so knapp und konzentriert, mit Ironie und Metaphern geizend erzählt wie keiner zuvor. Dennoch merkt man auch hier, vor allem an den prägnanten, zuweilen bestürzenden Bildern, dass die Lyrik den Nährboden seiner Prosa bildet.
Sie beschreiben Zhadan als politischen Autor und Aktivisten. Was sind seine Motive oder Ziele?
Er ist ein kommunizierender Künstler, er kennt seine Leserinnen und Leser, spricht sie an, hört ihnen zu. Er sitzt nicht einsam am Schreibtisch, sondern ist permanent unterwegs und im Kontakt mit dem Publikum. Das zeigte sich besonders im Frühjahr 2014, nach den Maidan-Protesten und der „Revolution der Würde“ in Kiew, als sogenannte Separatisten in der Ostukraine die Ordnung aushebelten und die Menschen in eine verzweifelte Lage brachten. Die Leute wussten plötzlich nicht mehr, wohin sie gehören. Zhadan hat mit seinen Lesereisen und Konzerten in der Region zu vermitteln versucht: Kommt, redet miteinander, ihr seid verantwortlich für das, was hier geschieht! Lasst euch nicht einschüchtern von den aus Moskau gesteuerten Kriminellen! Entscheidet selbst, wie ihr leben wollt!
Wie sieht er seine Rolle als ukrainischer Autor, gerade jetzt im Krieg?
Er hat eine große Fangemeinde in den sozialen Medien, die seit Kriegsbeginn im Februar immens gewachsen ist. Die Leute wollen wissen, was er denkt. Er sieht sich als Künstler in der Verantwortung. Vor Ort in Charkiw leistet er humanitäre Hilfe, fährt durch die Stadt, evakuiert Kinder und alte Leute, verteilt Lebensmittel. Zhadan hat die Gabe, die Lage in der Ukraine auch in andere Länder so zu vermitteln, dass sich Politikerinnen und Politiker für seine Einschätzung interessieren. Seine Berichte helfen dabei, sich von der Lebendigkeit der sehr heterogenen ukrainischen Gesellschaft ein Bild zu machen.
Inzwischen gilt Zhadan bei vielen Kritikerinnen und Kritikern als visionärer Autor. Lesen Sie ihn heute in einem anderen Licht?
Nein. Eher erfüllt es mich mit Resignation, dass seine Bücher erst heute wahrgenommen werden. Man liest sie, als hätte er bereits alles vorausgesehen. Aber das stimmt nicht. Das, was in seinen Büchern steht, war einfach nicht Teil unserer Realität. Zhadan hat bereits 2014 bei der Verleihung des „Brücke-Berlin“-Preises gesagt, wie schrecklich es für einen Autor ist zu sehen, dass die Figuren seiner Romane nun tatsächlich die Waffen gegeneinander erheben. Das war im Jahr der Krim-Annexion und des beginnenden Donbass-Kriegs. Mir hat das zu denken gegeben. Wir haben wirklich viel versucht, um ukrainische Bücher und besonders Zhadans Werke bekannt zu machen. Es hat auch nicht an Institutionen und Veranstaltern gemangelt, die ihn eingeladen haben – er sprach auf zahllosen Podien, im Europaparlament, sogar im Bundestag. Trotzdem war die Ukraine nicht im Fokus.
Zhadan ist Alumnus des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und verbrachte 2010 ein Jahr als Fellow in Berlin. Was hat ihm die DAAD-Förderung ermöglicht?
In Ruhe zu arbeiten. Er schloss seinen aktuellen Roman ab – Die Erfindung des Jazz im Donbass (im Original: Vorošilovgrad). Mit seiner Band „Sobaki v kosmosi“ trat er im Berliner „Kaffee Burger“ auf. Wir nutzten die Chance, zusammen mit Claudia Dathe an der deutschen Fassung seines Erzählungsbands Big Mac zu arbeiten, den wir um neuere Sachen erweiterten, etwa um den Berlin-Text „Verluste, die uns glücklich machen“. Zhadan hat das Jahr genutzt, um vor Ort zu recherchieren, viele neue Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu vertiefen.
Serhij Zhadan ist mit der Verleihung des Friedenspreises Träger eines der wichtigsten Kulturpreise Deutschlands. Was bedeutet diese Ehrung für ihn?
Er hat sich gefreut, doch erst später verstanden, wie bedeutend dieser Preis wirklich ist. Serhij ist ein Mensch, der nicht hierachisch denkt. Für ihn zählen äußerliche Dinge wie Ehrungen eigentlich nicht. Nun muss er sich der Paradoxie stellen, dass er ein Friedenspreisträger ist, der Geld für seine Einheit in der Territorialverteidigung sammelt. In einem Interview erklärte er, dass auch er als pazifistischer Mensch nie an einen Krieg gedacht hat. Dass aber die einzige Möglichkeit, den Frieden wiederherzustellen, darin besteht, diesen Krieg zu führen: um die Zukunft der Ukraine zu verteidigen.
Interview: Christiane Weidemann (24. Oktober 2022)
Zu den Personen
Serhij Zhadan
Der ukrainische Schriftsteller studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass erhielt er den Jan-Michalski-Literaturpreis und gemeinsam mit Sabine Stöhr und Juri Durkot, seinen Übersetzern, den Brücke-Berlin-Preis 2014. Die BBC kürte das Werk zum „Buch des Jahrzehnts“. Zhadan wurde, neben vielen weiteren Auszeichnungen in diesem Jahr, mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 ausgezeichnet. Er lebt in Charkiw, Ukraine.
Katharina Raabe
Die Verlagslektorin ist seit drei Jahrzehnten in verschiedenen Häusern tätig und betreut seit vielen Jahren auch das Werk von Serhij Zhadan. Im Jahr 2000 wechselte sie zum Suhrkamp Verlag, wo sie das osteuropäische Programm um weit mehr als 200 neue Titel ausgebaut hat.