Corona in Brasilien
Antonio Scorza/Agencia O Globo
Die Covid-19-Pandemie hat Brasilien besonders hart getroffen. Auch Cristo Redentor, die monumentale Christusstatue auf dem Corcovado im brasilianischen Rio de Janeiro, trägt eine Atemschutzmaske.
Was die Coronakrise für die einzelnen Länder bedeutet und wie der DAAD darauf reagiert, berichten die Leiterinnen und Leiter unserer Außenstellen. Heute stellen wir drei Fragen an Dr. Jochen Hellmann, Leiter der DAAD-Außenstelle Rio de Janeiro, der die Situation in Brasilien schildert.
Herr Dr. Hellmann, in den europäischen Medien wird derzeit ausgiebig über die besorgniserregende Lage in Brasilien berichtet. Wie schätzen Sie vor Ort die Lage ein?
Im föderalen Brasilien tobt ein kontinuierlicher Kompetenzstreit zwischen den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern der großen Städte, den Gouverneurinnen und Gouverneuren der Bundesstaaten sowie der Zentralregierung mit dem rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro an der Spitze: Die gegen die Ausbreitung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen sind in den verschiedenen Gegenden Brasiliens sehr unterschiedlich und folgen beinahe nirgends einer allgemein nachvollziehbaren Logik. Während die eine Gebietskörperschaft über eine Verschärfung der Maßnahmen spricht, beschließt eine benachbarte Lockerungen, sodass der Eindruck eines ungeordneten Durcheinanders entsteht.
Teile der Bevölkerung respektieren die Vorgaben nicht mehr, viele der ärmeren Brasilianerinnen und Brasilianer sind nach drei Monaten Stillstand auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht ohne Weiteres in der Lage, dem Ratschlag, zuhause zu bleiben, zu folgen. In den Medien wird gelegentlich auf Deutschland als Beispiel verwiesen, dem es nachzueifern gelte. Dabei spielt eine gewisse Idealisierung eine Rolle, bedingt durch bestehende, uns durchaus generell nützliche Positiv-Stereotype wie Ordnung, Disziplin und Verlässlichkeit.
Wie wirkt sich diese Situation auf die brasilianischen Hochschulen aus?
Die Universitäten sind seit März geschlossen; eine Wiederaufnahme des Präsenzbetriebs ist insbesondere bei den staatlichen Hochschulen in den nächsten Monaten nicht zu erwarten. Nur ein kleiner Teil der Universitäten, zum Beispiel die in den Rankings am besten abschneidende Universität von São Paulo (USP), setzt konsequent auf Onlineunterricht. Die meisten staatlichen Universitäten äußern sich skeptisch gegenüber Onlineformaten; sie verweisen auf die „Digital Divide“, also auf den Umstand, dass ein Teil ihrer ärmeren Klientel nicht über ausreichenden Onlinezugang verfügt. Dieses Argument ist sehr ernst zu nehmen, obwohl gelegentlich auch Unwillen zur Einarbeitung in technische und pädagogische Innovationen eine Rolle spielen sowie die Furcht, die Regierung könnte mit Hinweis auf die Kostenersparnis generell die Einschränkung des Präsenzunterrichts verlangen.
Die sehr zahlreichen privaten Hochschulen sind, von Ausnahmen abgesehen, nicht als wissenschaftliche Hochschulen nach unserem Verständnis anzusehen. Sie haben dennoch eine soziale und volkswirtschaftliche Funktion als Sprungbrett aus der Prekarität in Mittelklasse-Berufe. Das Business-Modell dieser Hochschulen, die von den Studiengebühren leben, ist durch den Wegfall des Präsenzunterrichts in höchster Gefahr. Sie versuchen sich durch Umstellung auf Fernlehre zu retten, was aber nur bedingt erfolgreich zu sein scheint, teils aufgrund der genannten Tatsache, dass nicht alle Studierenden bei dieser Umstellung mitziehen können oder wollen, teils, weil die Gebühren in der Fernlehre niedriger sind als bei präsentieller Lehre.
Das Team der DAAD-Außenstelle in Brasilien kommt regelmäßig im Onlinemeeting zusammen, freut sich aber schon auf die Zeit, wenn der persönliche Austausch wieder möglich ist.
Welche Konsequenzen hat das für die Arbeit der DAAD-Außenstelle in Rio de Janeiro?
Das gesamte Team arbeitet seit dem 17. März 2020 im Homeoffice. Dies funktioniert zufriedenstellend, wir geben alle unser Bestes und es gelingt, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Nicht nur das: Wir gewinnen zusehends – wie viele im DAAD – eine vorher auf diesem Niveau nicht vorhandene Gewandheit im Gebrauch digitaler Formate. Der Anteil der von Rio und São Paulo aus online durchgeführten Marketing- und Beratungsveranstaltungen stieg seit Beginn der COVID-19-Pandemie signifikant an.
Ein besonderer Höhepunkt war in dieser Hinsicht die vom 1. bis 5. Juni durchgeführte „Woche der offenen Fenster“ mit mehr als einem Dutzend Einzelvorträgen des DAAD und mehrerer regionaler Partner zum Studium in Deutschland, zur deutschen Forschungslandschaft und zur deutschen Sprache. An dieser mehrtägigen Fernkonferenz nahmen mehr als 2.000 interessierte Personen aus nahezu allen brasilianischen Bundesstaaten teil. Hervorzuheben ist, dass dieses Format nicht nur Interessentinnen und Interessenten in den hintersten Winkeln Brasiliens erreicht, sondern auch eine gegenüber präsentiellen Konferenzen enorm gesteigerte Interaktivität gestattet: In der traditionellen Präsenz-Konferenz wagen es, wie wir alle oft erlebt haben, nur wenige Mutige, nach den Vorträgen zwei oder drei Fragen zu stellen, die von der Moderation häufig genug mühsam dem schweigenden Publikum abgewonnen werden müssen. Hingegen fällt es nahezu allen leicht, eine Frage in den Chat zu tippen. Die Chats hatten daher eine enorme Teilnahmeintensität, sodass fast alle Kolleginnen und Kollegen der Außenstelle simultan den Strom der eingehenden Nachfragen beantworteten. Ganz ohne technische Pannen läuft so etwas nicht ab, und es fehlen natürlich auch die bei präsentiellen Konferenzen beliebten Networking-Gelegenheiten während der Kaffeepausen, aber wir werden das Format auch nach Überwindung der aktuellen Krise weiter verwenden.
Dennoch will ich nicht bestreiten, dass wir uns auf den Tag freuen, an dem wir wieder leibhaftig in unserer Außenstelle zusammenkommen und die bewährten Mechanismen der schnellen Klärung von Büro zu Büro sowie die Flurkommunikation erneut in Gang setzen können. Videokonferenzen mit externen Partnern, mit denen noch kein eingeübtes Vertrauensverhältnis besteht, geraten oft steif und anstrengend durch die Merkmale der zweidimensionalen Zusammenkunft. Man muss zudem bedenken, dass wir Deutsch, Portugiesisch und (seltener) Englisch kommunizieren; nach meiner Erfahrung wird ein präsentielles C1-Sprachniveau in der Videokonferenz durch die akustischen und kommunikativen Bedingungen schnell zu einem De-facto-B1-Niveau und einige der Teilnehmenden kommen sprachlich nicht mehr mit und klinken sich aus. Mit einem Wort: Wir haben die Vorteile der digitalen Kommunikation schätzen und die Nachteile kennengelernt.
(30. Juni 2020)
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