Zehn Jahre Arabischer Frühling: zwischen Aufbruch und Reformstau
DAAD Tunis/Dieterich
Der Uhrturm markiert den Anfang der zentralen Avenue von Tunis. Hier finden bis heute die großen Demonstrationen statt. Nicht weit davon entfernt befindet sich die DAAD-Außenstelle.
Auf den ersten Blick ist die Bilanz ernüchternd: Zehn Jahre nach Beginn der Arabellion haben sich die großen Hoffnungen der Menschen auf tiefgreifenden demokratischen Wandel kaum erfüllt. Selbst in Tunesien, Vorzeigeland des demokratischen Umbruchs, ist die Unzufriedenheit groß. Die wirtschaftliche Lage ist schlecht, die Arbeitslosigkeit gerade unter jungen Menschen hoch. Auf den zweiten Blick gibt es allerdings gerade im Bildungssystem Veränderungen, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen.
Die tunesischen Universitäten haben von der demokratischen Transformation profitiert und mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Meinungsfreiheit gewonnen. Auch die finanzielle Unterstützung ausländischer Geber als „Revolutionsdividende“ hilft bei nationalen Reformanstrengungen, gerade im Bildungswesen. Der Gewinn an akademischer Freiheit an den Universitäten ist besonders hoch: Herrschte bis 2011 in gesellschaftlichen und politischen Fragen Grabesstille, sind die Diskussionen heute frei und lebhaft. Universitätspräsidentinnen und -präsidenten sowie Dekaninnen und Dekane, früher vom Hochschulministerium eingesetzt, werden heute direkt gewählt und müssen sich dem Urteil ihrer Kolleginnen und Kollegen stellen. Lehrende sind gewerkschaftlich organisiert und wirken als politische Einflussgruppen. Auch die Studierenden haben Interessenvertretungen gebildet und melden sich lautstark zu Wort. Zwar hat das Hochschulministerium durch seine Budgethoheit weiterhin großen Einfluss auf die Entwicklung der Hochschulen und Forschungseinrichtungen, doch das Selbstbewusstsein der Universitäten ist gewachsen. Waren die Hochschulstandorte in den ersten Jahren nach der Revolution Schauplatz erbitterter Auseinandersetzung zwischen radikalislamischen und laizistischen Kräften, ist heute mehr Sachlichkeit in den Debatten eingekehrt. Aktuell drehen sich Diskussionen zum Beispiel um die Frage, inwieweit die Corona-Pandemie soziale Ungleichheiten verstärkt – fehlen Studierenden aus einkommensschwachen Verhältnissen doch oft die technischen Möglichkeiten, um an digitalen Lehrangeboten teilzuhaben.
Dennoch steht das tunesische Hochschulsystem vor großen strukturellen und finanziellen Herausforderungen, die nicht allein durch den Demokratisierungsschub gelöst werden können. Es fehlt an langfristigen und tragfähigen Strategien, um das große Potenzial des Hochschulsystems auszuschöpfen. So bietet beispielsweise der Hochschulabschluss derzeit kaum Vorteile auf dem Arbeitsmarkt. Im Gegenteil: Die Chance auf einen guten Job für junge Akademikerinnen und Akademiker ist heute deutlich kleiner als für Nichtstudierte. Während die Arbeitslosigkeit landesweit offiziell bei rund 16 Prozent liegt, ist sie unter Akademikerinnen und Akademikern mit 30 Prozent knapp doppelt so hoch. Eine der Ursachen ist die fehlende Verknüpfung zwischen den Anforderungen des Arbeitsmarktes und den Qualifikationen der Absolventinnen und Absolventen. Sie sind zumeist auf gutem fachlichem Niveau, jedoch ohne Praxisbezug ausgebildet und so für viele Arbeitgeber uninteressant. Zudem besteht die tunesische Wirtschaft fast ausschließlich aus kleinen und mittleren Unternehmen mit zumeist wenigen Angestellten. Die vielen arbeitslosen Akademikerinnen und Akademiker im Land können sie nicht aufnehmen.
Renate Dieterich leitet seit 2019 die DAAD-Außenstelle Tunis.
Rund 4.000 arbeitslose Promovierte suchen aktuell nach passenden Jobs, weitere 14.000 Doktorandinnen und Doktoranden werden in den kommenden Jahren auf den Arbeitsmarkt drängen. Viele von ihnen wünschen sich eine sichere Stelle im staatlichen Sektor. Trotz Pandemie demonstrieren daher seit Sommer 2020 täglich arbeitslose Akademikerinnen und Akademiker vor dem tunesischen Hochschulministerium und verlangen eine Einstellungsgarantie. Das Ministerium hat dabei wenig Spielraum: Tunesien will weitere Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Anspruch nehmen, dafür ist eine deutliche Reduzierung der Staatsquote unabdingbar. Neueinstellungen im öffentlichen Dienst sind daher kaum möglich.
Auch die sinkenden Studierendenzahlen bereiten mit Blick auf den gewünschten Sprung in eine Wissens- und Bildungsgesellschaft Sorge: 2011 waren 340.000 junge Menschen in Tunesien eingeschrieben, 2018 ist die Zahl auf 270.000 gesunken. Auch die Internationalisierung der Hochschulen kommt kaum voran. Der Anteil ausländischer Studierender ist zwischen 2014 und 2019 nur von 2 auf 2,8 Prozent gestiegen. Dem selbsterklärten Ziel, ein attraktives Ziel für Studierende aus dem frankofonen Subsahara-Afrika zu sein, kommt Tunesien damit kaum näher. Auch die 2019 eingeführten Studiengebühren für afrikanische Studierende bremsen die Attraktivität des Studienstandorts Tunesien. Zwar ist das Budget des tunesischen Hochschulministeriums seit der Revolution gestiegen, bei gleichzeitigem massivem Kursverlust des Dinars und der Zunahme der Zahl an Hochschuleinrichtungen ist eine echte Qualitätssteigerung so kaum zu erreichen.
Gleichzeitig sorgten EU-finanzierte Angebote und bilaterale Programme – beispielsweise des DAAD – in den vergangenen Jahren für einen spürbaren Ausbau internationaler Kooperationen im Hochschulsystem. Für deutsche Hochschulen ist Tunesien inzwischen dank des guten Ausbildungsniveaus und der interkulturellen Kompetenz der Studierenden zu einem interessanten Kooperationspartner geworden. Das tunesische Hochschulministerium finanziert zudem gemeinsam mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Forschungsprojekte in Kooperation mit Wirtschaftsunternehmen, um den Anwendungsbezug zu stärken. 2020 nahm darüber hinaus das vom BMBF geförderte Merian Center for Advanced Studies in the Maghreb seine Arbeit zur Internationalisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften auf.
Für die tunesischen Hochschulen stellen die Kooperationen mit deutschen Hochschulen also eine gute Möglichkeit zum Netzwerkausbau bei knappen Kassen dar. Diese internationalen Verbindungen müssen zukünftig sinnvoll genutzt werden, um die Ausbildung zu modernisieren, die Strukturen zu reformieren und die Beschäftigungsfähigkeit der Absolventinnen und Absolventen zu steigern. So kann Tunesien Anschluss an den internationalen Wissenschaftsdiskurs finden und mehr jungen Menschen Hoffnung auf Aufstieg durch Bildung bieten.
Renate Dieterich (30. März 2021)
Der Beitrag ist zuerst erschienen in der Zeitung Politik & Kultur, Ausgabe Nr. 03/2021.
Weiterführende Links
Kooperationsprojekte mit Tunesien