Gemeinsame Fortschritte für das Gesundheitssystem in Tunesien
AdobeStock
Gesundheit und Informatik verschmelzen in Tunesien zu E-Health-Angeboten. Projekte im Rahmen der Deutsch-Arabischen Transformationspartnerschaft liefern dazu wichtige Impulse.
Die Deutsch-Arabische Transformationspartnerschaft hat unter anderem die Stärkung der Qualität von Forschung und Lehre an den beteiligten Hochschulen im Nahen Osten und in Nordafrika (MENA) zum Ziel. Im Rahmen der akademischen Kooperation und der Hochschulausbildung leisten die Partnerhochschulen aber auch ganz konkrete Beiträge zur Verbesserung der Lebensbedingungen, wie drei vom DAAD geförderte Projekte in Tunesien zum Thema Gesundheit zeigen.
„Generic Platform for the Design of Bioimpedance Spectrometer for Non-Invasive Biological Tissue and Personal Health Monitoring”: Technische Universität Chemnitz in Zusammenarbeit mit dem Digital Research Center of Sfax (CRNS), gefördert im Rahmen der Deutsch-Arabischen Forschungspartnerschaften.
Zum Beginn des Frühjahrs nehmen sich etliche Menschen vor, ein paar Kilogramm abzunehmen. Um ihre Fortschritte messen zu können, legen sich Abnehmwillige eine Körperfettwaage zu. Solche Waagen leiten einen schwachen Wechselstrom durch den Körper und messen anhand des Widerstands, wie hoch der Anteil an Körperfett, Wasser, Muskeln und Knochen ist. Diese sogenannte bioelektrische Impedanzanalyse kann aber in einer erweiterten Form auch für viele weitere medizinische Zwecke eingesetzt werden, etwa bei der Überwachung von Kranken. „Im Labor wird die Methode bereits oft genutzt. Doch die bisherigen Geräte sind sehr groß und kostspielig. Damit sind sie in Ländern wie Tunesien unerschwinglich“, berichtet Prof. Dr. Olfa Kanoun. Die renommierte Forscherin kam zu Beginn der 1990er Jahre mit einem Regierungsstipendium von Tunesien nach Deutschland, um an der Technischen Universität München Elektro- und Informationstechnik zu studieren. Seit 2007 hat sie die Professur für Mess- und Sensortechnik an der Technischen Universität Chemnitz (TU) inne und gilt weltweit als eine der führenden Expertinnen für Impedanzspektroskopie.
Gruppenfoto im Rahmen des Workshops „Non-invasive Health Monitoring“, der im Sommer 2019 am Digital Research Center of Sfax stattfand.
Ziel: tragbare und bezahlbare Geräte
Um einen breiteren Einsatz der Methode zu ermöglichen und diese auch in Entwicklungsländern zugänglich zu machen, hat Kanoun 2019 in Zusammenarbeit mit Dr. Dhouha Bouchaala sowie dem Digital Research Centre (CRNS) im tunesischen Sfax und dessen klinischen Partnern das Projekt „Generic Platform for the Design of Bioimpedance Spectrometer for Non-Invasive Biological Tissue and Personal Health Monitoring“ gestartet. Ziel des Projektes, das im Rahmen der Deutsch-Arabischen Forschungspartnerschaften gefördert wird, ist es, tragbare und kostengünstige Bioimpedanz-Messgeräte zu entwickeln. Das Projekt basiert auf der Arbeit von Dr. Bouchaala, die 2016 mit einem DAAD-Stipendium in Chemnitz promoviert hat und das Projekt auf tunesischer Seite leitet. Im Frühjahr 2019 wurde ein Team mit Forscherinnen und Forschern aus beiden Ländern gebildet. Ihm gehören zwei Doktorandinnen und Doktoranden in Chemnitz und vier in Sfax an. Diese bilden zusammen mit zahlreichen gemeinsam betreuten Studenten jedes Jahr das Kernteam des Projektes. Die Küstenstadt rund 300 Kilometer südlich von Tunis ist das Wirtschaftszentrum des nordafrikanischen Landes und spielt eine wichtige Rolle für die Gesundheitsversorgung im Süden.
Dipl.-Ing. Bilel Ben Atitallah misst am Oberarm die Bioimpedanz für die Anwendung „Gestenerkennung für die Mensch-Maschine-Interaktion“.
Enormes Anwendungspotenzial
Bereits im Sommer 2019 fand der erste Workshop in Sfax statt, an dem auch Vertreterinnen und Vertreter anderer Institutionen aus den Bereichen Medizin, Technik und Sportwissenschaften teilnahmen. Das verdeutlicht, wie groß das Interesse am Projekt und seinen Ansätzen ist. „Das Anwendungspotenzial ist enorm. Je mehr wir forschen, desto mehr entdecken wir“, schwärmt Kanoun. So könne man das Verfahren beispielsweise nutzen, um den Gesundheitszustand von Muskeln oder sogar Epilepsie-Anfälle zu überwachen. Selbst Gesten ließen sich mit der Impedanzanalyse messen, erklärt die Wissenschaftlerin, was Einsatzmöglichkeiten für Felder wie Robotik und Mensch-Maschine-Interaktion eröffne. Basierend auf dem laufenden Kooperationsprojekt wurde gemeinsam ein weiteres Projekt akquiriert, finanziert durch das tunesische Ministerium für Bildung und Forschung. Dabei wird mithilfe des Verfahrens der Zustand der Lunge während der Beatmung kontrolliert, was gerade in der derzeitigen Covid-19-Pandemie besonders wichtig ist. Das Projekt biete einen interessanten Rahmen für den bilateralen und interdisziplinären Austausch, sagt Kanoun. So finden regelmäßige gemeinsame Workshops und Weiterbildungen statt und das gemeinsame Team beteiligt sich wiederholt und erfolgreich an Wettbewerben mit innovativen Ideen wie z. B. der „Science Fair“ der IEEE Student Branch der TU Chemnitz sowie dem „Hacking Health“, dem Hackathon des CRNS mit dem Schwerpunkt E-Health. Zusätzlich zu diversen Publikationen auf internationalen Tagungen und Zeitschriften wurde eine Sondersitzung mit vier wissenschaftlichen Beiträgen aus dem Projekt auf dem 12. International Workshop on Impedance Spectroscopy (IWIS 2020) vorgestellt, einer international hoch angesehenen internationalen Konferenz mit Teilnehmern aus mehr als 20 Ländern. Dort wurde auch ein dedizierter Workshop zum Projekt BISMON veranstaltet, um weitere Entwicklungstendenzen mit internationalen Experten auf dem Gebiet zu diskutieren und zusätzliche Kooperationen aufzubauen. Das Projekt läuft weiter und das engagierte Team arbeitet intensiv an der Fertigstellung von bezahlbaren eingebetteten Messysystemen der Impedanzspektroskopie, um sie noch im Rahmen des Projektes als Prototyp fertigzustellen. „Die Zusammenarbeit zwischen den Projektpartnern und dem aufgebauten Netzwerk bildet eine solide Basis für weitere erfolgreiche Kooperationen sowie den Ausbau der Kooperation zwischen mehreren Institutionen in beiden Ländern“, sagt Kanoun.
Das Projekt „Theralytics” erhebt Patientendaten mithilfe tragbarer Sensoren, um indiviuelle Therapiepläne zu entwickeln.
„Theralytics: Smart E-Health Services for Treating Patients in Tunisia”: Philipps-Universität Marburg in Zusammenarbeit mit dem Digital Research Center of Sfax (CRNS), gefördert im Rahmen der Deutsch-Arabischen Forschungspartnerschaften.
Das Projekt „Theralytics: Smart E-Health Services for Treating Patients in Tunisia”, das die Universität Marburg zwischen 2016 und 2019 ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem CRNS in Sfax durchgeführt hat, geht noch einen Schritt weiter. Wie der Name „Theralytics“ – eine Kombination aus „Therapy“ und „Analytics“ – schon andeutet, sollen auf Basis von Patientendaten, die mithilfe tragbarer Sensoren ermittelt werden, und medizinischer Informationen aus dem Internet individuelle Behandlungspläne entwickelt werden, die Ärztinnen und Ärzte nach Prüfung an die Patientinnen und Patienten weiterleiten. Dank des Aufbaus dieses E-Health-Systems könnten auch Menschen in ländlichen Regionen von einer besseren Gesundheitsvorsorge bei Krankheiten wie Epilepsie, Parkinson, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie psychischen Störungen profitieren.
Hier finden Sie ein Video dazu.
Warnung auf das Smartphone
Beispiele, die im Rahmen des Projektes entwickelt wurden, sind ein vernetzter Beschleunigungssensor, der Parkinson-Betroffene beim plötzlichen Einfrieren von Bewegungen („Freezing of Gait“) vor einem Sturz warnen soll, und ein Fernüberwachungssystem für Herzkranke, das im Notfall den zuständigen Arzt alarmiert. Die Daten könnten auch dazu dienen, um Vorhersagen für eine mögliche Herzinsuffizienz zu treffen. Kernstück des Projektes war ein System zur Gesundheitsüberwachung, das auf dem Internet der Dinge basiert und sogenannte Low Power Wide Area Networks nutzt, um die Daten von Sensoren über größere Distanzen drahtlos an einen Server zu übertragen. Dabei vereint „Theralytics“ viele unterschiedliche Ansätze und Technologien wie Cloud Computing und agile Projektmanagementmethoden, wie z.B. Scrum.
Einige Zwischenergebnisse präsentierte ein Mitglied aus dem Projektteam bei der Health Cluster Conference, die der DAAD 2017 in Kairo abhielt. Das Team um Prof. Dr.-Ing. Bernd Freisleben vom Lehrstuhl für Vernetzte Systeme und Anwendungen in Marburg sowie seine tunesischen Kollegen Prof. Dr.-Ing. Mohamed Jmaiel und Dr. Afef Mdhaffar bestand aus drei Postdoktorandinnen und -doktoranden, vier Doktorandinnen und Doktoranden sowie elf Studierenden. Mehr als die Hälfte davon waren Frauen. Einige hielten sich vorübergehend für Weiterbildungen in Marburg auf. Darüber hinaus fanden fünf gemeinsame Workshops in Deutschland statt und die Teams beteiligten sich am jährlichen „Hacking Health Sfax“, einem Hackathon mit dem Schwerpunkt E-Health. „Die Ansätze wurden auch nach Abschluss des DAAD-Projektes in Tunesien intensiv weitergeführt“, so Projektleiter Freisleben.
„E-Health als neues Forschungsgebiet“
Drei Fragen an Projektleiter Prof. Dr. Bernd Freisleben
Wie entstand die Idee zu „Theralytics“?
Prof. Dr. Bernd Freisleben: Gemeinsam mit Prof. Dr.-Ing. Mohamed Jmaiel, Professor für Informatik an der Nationalen Ingenieurschule von Sfax (ENIS) und Generaldirektor am CRNS, habe ich schon mehrere Projekte im früheren DAAD-Programm Deutsch-Arabischer/Iranischer Hochschuldialog sowie im Rahmen der Deutsch-Arabischen Transformationspartnerschaft durchgeführt. Prof. Jmaiel, der in Deutschland promoviert hat, kannte wiederum Dr. Afef Mdhaffar, die 2014 mit einem DAAD-Stipendium in Marburg promoviert hat und heute als Assistenzprofessorin an der ENIS arbeitet. So hat sich das Kernteam gebildet. Ausschlaggebend für „Theralytics“ war letztlich der Plan des tunesischen Premierministers „Digitales Tunesien 2020“, der die Entwicklung elektronischer Dienste für die Bürgerinnen und Bürger des Landes vorsah.
Was haben Sie mit dem Projekt erreicht?
Ich denke, „Theralytics“ hat dazu beigetragen, den Gesundheitssektor in Tunesien voranzubringen. So wurde im Rahmen dieses Projektes E-Health als neues Forschungsgebiet in Tunesien eingeführt. Außerdem wurde die interdisziplinäre Zusammenarbeit gestärkt. So waren an dem Projekt Informatikerinnen und Informatiker der Universitäten Sfax und Sousse sowie medizinische Einrichtungen wie das Universitätskrankenhaus Sfax, die Klinik Errachid und die tunesische Vereinigung für Bipolarität beteiligt.
Wie hat die Universität Marburg von der Zusammenarbeit profitiert?
Die Entwicklungen beinhalten auch immer experimentelle Analysen, teilweise auf Basis von Realdaten. Solche Forschung führen wir selbst kaum durch, und ich glaube, das wäre in Deutschland auch nicht so einfach gewesen wie in Tunesien. Insofern war es für beide Seiten ein Erfolg.
PDTH-Koordinator Dr. Ammar Achraf (4. von links) und sein Team belegten 2019 beim „Hacking Health“ in Sfax den zweiten Platz.
„Promoting Engineering and Digital Technology for Physical and Mental Health: PDTH”: Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg in Zusammenarbeit mit dem Digital Research Center of Sfax (CRNS) sowie dem Higher Institute of Computer Science and Multimedia der Universität Sfax (ISIMS), gefördert im Rahmen der Deutsch-Arabischen Hochschulpartnerschaften.
Digital basierte Lösungen können dazu beitragen, die physische und geistige Gesundheit der Menschen zu verbessern und das Risiko für schwere Krankheiten zu reduzieren. Aber wie bringen Hochschulen die Entwicklung und Anwendung solcher Lösungen voran? Dieser Aufgabe hat sich das Projekt „Promoting Engineering and Digital Technology for Physical and Mental Health: PDTH” gestellt. Es wird seit 2019 im Rahmen der Deutsch-Arabischen Hochschulpartnerschaften vom DAAD gefördert. Der Lehrstuhl Sport und Technik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg unter Leitung von Prof. Dr. Anita Hökelmann hat dazu gemeinsam mit dem CRNS sowie dem Higher Institute of Computer Science and Multimedia der Universität Sfax (ISIMS) den Masterstudiengang „Master of Science in Digital Technologies for Health Care (MSDTHC)“ entwickelt. Beteiligt sind außerdem das Department of Sport Engineering am Institute of Sport Science (ISPW) in Sfax sowie das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) der Otto-von-Guericke-Universität.
Masterstudiengang mit interdisziplinärem Curriculum
„Das vorgeschlagene Curriculum für unseren internationalen Master wurde 2020 vom Ministerium für Hochschulbildung und wissenschaftliche Forschung in Tunesien genehmigt“, berichtet Dr. Ammar Achraf, Koordinator für das PDTH-Projekt an der Universität Magdeburg. „Die Herausforderung bestand darin, Studierenden, Forschern und Lehrkräften mit unterschiedlichem fachlichem Hintergrund relevante Kompetenzen zu vermitteln und den interdisziplinären Lehrplan in das tunesische Hochschulsystem einzubinden.“ Der Masterstudiengang bietet 25 Plätze und beinhaltet Module aus Fachrichtungen wie Informatik, Ingenieurwesen, Gesundheit, Neurowissenschaften, Sport/Physische Aktivität sowie Management.
Die Inhalte wurden während einer Summer School im September 2019 entwickelt und 2020 zunächst in ein bestehendes Masterprogramm am ISIMS integriert und dort getestet. Im Januar 2020 fand außerdem noch ein gemeinsamer Workshop in Magdeburg statt, ehe die Covid-19-Pandemie die Beteiligten dazu zwang, auf digitale Formate umzustellen. Davon war auch der offizielle Start des Masterstudiengangs betroffen: die erste internationale Summer School zum Thema „Digital Technologies for Sport and Health“ im September 2020, die eigentlich im tunesischen Kerkennah stattfinden sollte. Wegen Corona konnte die zweiwöchige Veranstaltung nur online stattfinden.
Die digitale Summer School war der offizielle Startschuss für den Masterstudiengang.
Ziel des Studiengangs ist es, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf den Arbeitsmarkt im Gesundheitsbereich vorzubereiten. Geplant ist daher in diesem Jahr eine Nachfolgephase, in der unter anderem ein Start-up-Inkubator für Absolventinnen und Absolventen an der Universität Sfax eingerichtet werden soll. Bereits 2020 sind erste gemeinsame Forschungsvorhaben aus dem Projekt hervorgegangen. So wurden beim Bundesministerium für Bildung und Forschung Anträge für die Entwicklung eines neuartigen Rollators eingereicht sowie für ein „Wearable“, das für die Früherkennung von Demenz eingesetzt werden kann. Und im April 2020, kurz nach dem ersten Lockdown, starteten Dr. Achraf und weitere Beteiligte aus Magdeburg und Sfax eine länderübergreifende elektronische Umfrage, mit der die Auswirkungen der häuslichen Enge auf die psychische Gesundheit und den Lebensstil untersucht werden sollten. „45 Forschungsorganisationen aus verschiedenen Ländern in Europa, Afrika, Asien und Amerika haben die Umfrage über ihre Netzwerke beworben. Erste Ergebnisse wurden schon veröffentlicht“, freut sich Achraf.
Peter Nederstigt (8. April 2021)
Weitere Informationen
Deutsch-Arabische Transformationspartnerschaft
2012 startete das Förderprogramm mit Mitteln des Auswärtigen Amtes mit den Zielländern Ägypten und Tunesien, 2013 kamen Jemen, Jordanien, Libyen und Marokko hinzu, 2016 Irak und Libanon. Das Programm beinhaltet drei Programmlinien.
Kooperationsprojekte in der MENA-Region
- DAAD Aktuell: Partnerschaft und Dialog mit der arabischen Hochschulwelt
- DAAD Aktuell: „Transformation – Kultur – Geschlecht“ in Tunesien – ein Forschungsprojekt
- DAAD Aktuell: Strukturwandel in deutsch-irakischer Zusammenarbeit
- DAAD Aktuell: Der Himmel über Beirut
- DAAD Aktuell: Medienbildung gegen Polarisierung und Populismus
- DAAD Aktuell: „Die Transformationspartnerschaft hat mich überzeugt zu bleiben“
- DAAD Aktuell: Gesund lernen, gesund leben?
- DAAD Aktuell: Würzburg - Kairo: Kulturdialog im Zeichen von Ägyptologie und Museologie
- DAAD Aktuell: Im Dialog mit der arabischen Welt: Soziale Arbeit mit Geflüchteten