In der Vermittler-Rolle: Kolumbiens Universitäten suchen den konstruktiven Dialog

Cristian Garavito

„Wo man wenig liest, wird viel geschossen“, steht auf dem Plakat, das eine Studierende in Kolumbien bei den Demonstrationen gegen die Regierung in die Höhe hält.

Seit Ende April erschüttern soziale Unruhen Kolumbien. Dutzende Menschen starben bislang bei den Protesten. Getrieben von sozialer Ungleichheit und wirtschaftlichen Missständen fordern junge Menschen und Studierende umfängliche Reformen. Die Universitäten im Land versuchen in der aufgeheizten Situation zu vermitteln.

Unruhen und Proteste halten Kolumbien seit April in Atem. Zwar sind die Straßenblockaden mittlerweile geräumt, aber die nächsten großen Streikaktionen und Demonstrationen sind schon geplant. Die sozialen und politischen Probleme, die zu den Unruhen geführt haben, sind einer Lösung nicht nähergekommen. Die öffentlichen Hochschulen befinden sich in einem andauernden Streik, während die Regierung immer noch keine Gesprächsbereitschaft zeigt. Internationale Kritik löste insbesondere das Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte bei den Demonstrationen aus. Sie gehen seit Beginn der Proteste immer wieder brutal gegen die überwiegend friedlich Protestierenden vor. Menschenrechtsorganisationen wie das kolumbianische „Instituto de Estudios para el Desarrollo y la Paz“ (INDEPAZ) verzeichneten bis Mitte Juli 80 Tote, über 40 davon durch direkte Gewalteinwirkung der Sicherheitskräfte. Regierungsstellen stigmatisieren die Demonstrierenden als innere Feinde und Terroristen und rechtfertigen damit das harte Durchgreifen.

Die Gründe für den Protest insbesondere junger Menschen und Studierender sind dabei vielschichtig: Zum einen lehnen sie die Regierung von Präsident Iván Duque ab und kritisieren die aktuelle Steuer- und Gesundheitspolitik. Zum anderen fühlt sich die junge Generation vom Staat um ihre Zukunftsperspektiven betrogen. Die Bildungschancen und die Möglichkeit für sozialen Aufstieg sind in Kolumbien derzeit äußerst ungerecht verteilt, mehr als 40 Prozent der Kolumbianer leben in Armut. Zwar investiert das südamerikanische Land seit 2015 regelmäßig rund 15 Prozent des Staatshaushaltes für Bildung und unterstützt Studierwillige beispielsweise mit Studienkrediten. Dennoch brachen im ersten Jahr der Coronapandemie über 250.000 Studierende primär aus finanziellen Gründen ihr Studium ab und reihten sich in die sogenannte Generation „ni-ni“ (ni estudio ni trabajo – weder Studium noch Arbeit) ein.

In der Vermittler-Rolle: Kolumbiens Universitäten suchen den konstruktiven Dialog

Cristian Garavito

Studierende demonstrieren auf den Straßen Kolumbiens seit Monaten gegen die Regierung und für mehr Bildungsgerechtigkeit.

Mehr Engagement für bildungsschwache Gruppen
Das kolumbianische Bildungsdilemma reicht dabei weit über die Universitäten hinaus: „Zusätzlich zu den Universitätsstudierenden sollten wir uns auch Gedanken darüber machen, dass 50 Prozent der jungen Menschen in Kolumbien, die die Grund- und Sekundarschule abschließen, keinen Zugang zu höherer Bildung haben, weder zu technischer noch zu technologischer noch zu universitärer“, sagte die Rektorin der Universidad Nacional Dolly Montoya gegenüber der Deutschen Welle. Versuche, politisch gegenzusteuern, greifen oftmals zu kurz. In der Hauptstadt Bogotá kam nun die Bürgermeisterin Claudia López den Forderungen der Protestierenden nach und legte ein in Lateinamerika einmaliges Stipendienprogramm auf. Es ist speziell auf die Bedürfnisse der Generation „ni-ni“ zugeschnitten und verpflichtet die Universitäten der Hauptstadt zu zusätzlichem Engagement für sozial benachteiligte Minoritäten und Bildungsschwache.

Streikende Hochschulen und mangelndes Vertrauen
Auch die Hochschulen im Land unterstützen die Proteste, praktisch alle öffentlichen Bildungsinstitutionen befinden sich seit Ende April 2021 im Streik. Neben einem Ende der Gewalt fordern die Hochschulen ein Zugehen der Politik auf die Demonstrierenden. In einem Manifest der Lehrenden der Universidad del Valle, Cali, heißt es: „Es muss sichergestellt werden, dass die staatlichen Repressionen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht ungestraft bleiben, und dass die Bürger, die demonstrieren, gehört werden, damit die Demokratie und das Vertrauen in die Institutionen wiederhergestellt werden können.“ Doch die demokratischen Institutionen des Landes sind bei der Generation „ni-ni“ nicht gut gelitten. Die 2020 veröffentlichte Studie der Universität Rosario „¿Qué piensan, sienten y quieren los jóvenes?“ (Was denken, fühlen und wollen die jungen Menschen?) unter den 18- bis 32-Jährigen in unterschiedlichen Regionen Kolumbiens zeigte: Dem Parlament vertrauen nur 12 Prozent, dem Präsidentenamt 13 Prozent und den obersten Richtern 19 Prozent der rund 2.500 Befragten.

„Wir werden hier sehr gut wahrgenommen“

Miguel Ruiz/DAAD

Die Autorin Martina Schulze leitet die DAAD-Außenstelle in Bogotá noch bis zum 30. September 2021.

Konstruktiver Dialog für mehr Bildungsgerechtigkeit
Alejandro Gaviria von der Universidad de los Andes setzt trotzdem darauf, dass „die junge Generation Teil der Lösung sein will“. Gemeinsam mit Dolly Montoya und weiteren Rektorinnen und Rektoren haben sie das für alle Bürgerinnen und Bürger zugängliche Diskussionsforum „Convergencia por Colombia“ ins Leben gerufen. In sieben Bereichen werden online Ideen und Lösungsvorschlägen für einen konstruktiven Dialog aus der Krise gesammelt und ausgewertet. Es geht dabei um „integrative wirtschaftliche und soziale Entwicklung“, „Stärkung der Demokratie“, „Umsetzung des Friedensabkommens“, „Rechtsstaat, sozialer Protest und öffentliche Gewalt“ und insbesondere um das „Recht auf Bildung und gleichberechtigten Zugang zum Wissen“ sowie einen „Pakt für die Jugend“. Zentrale Forderungen beim Recht auf Bildung umfassen: Freier Internetzugang als Teil der Grundversorgung, Einlösen des von der Verfassung garantierten Rechts auf Bildung und Gleichheit sowie Einführung von Maßnahmen gegen Diskriminierung und die Überarbeitung aller Studienpläne der Hochschulen im Land mit Blick auf die bessere Vermittlung von demokratischen Werten und Sensibilisierung für globale Fragen.

Andere universitäre Foren mit geringerer Reichweite fordern zudem eine Diversifizierung und Flexibilisierung des Hochschulzugangs. Den Initiatoren der Initiative „Convergencia por Colombia“ geht es aber insbesondere darum, den Vorschlägen der Protestierenden durch gemeinsame Reflektion zu einer höheren Akzeptanz zu verhelfen. Akademische Grundtechniken sollen bestenfalls Demonstrierenden und Regierung den Weg aus einer emotional aufgeladenen politischen Polarisierung und unhaltbaren Pattsituation hin zu einem konstruktiven Dialog weisen.

Hochschulen als Mittler 
Derzeit entscheiden sich immer mehr Hochschulen im Land für offene virtuelle Angebote und neue Formen der problemorientierten Zusammenarbeit, oftmals aus einem starken Bekenntnis zur gelebten Demokratie heraus. Gleichzeitig bleibt fraglich, ob ein konstruktiver Dialog, den die kolumbianischen Universitäten vorleben und propagieren, das Land vor mehr Autoritarismus und einem Niedergang der demokratischen Werte bewahren kann. Die Chancen dazu stehen derzeit nicht schlecht: Die Stärke der Universitäten liegt darin, dass sie hohes Vertrauen in der gesamten Bevölkerung genießen. Dies gilt nicht nur für die bis 32-Jährigen, die in der Studie der Universidad del Rosario den öffentlichen Hochschulen zu 79 Prozent und den privaten Hochschulen zu immerhin 62 Prozent ihr Vertrauen aussprachen. Seit jeher erfüllen die kolumbianischen Universitäten wichtige soziale Aufgaben und erreichen über extracurriculare Entwicklungsprojekte große Teile der Bevölkerung. Ihr Rückhalt in der Gesellschaft ist entsprechend hoch. Das unterscheidet die Hochschulen auch von der katholischen Kirche, die sich bisher erfolglos um die Vermittlung zwischen den Streikenden und der Regierung bemüht hat: Der Dialog zwischen Regierung und den Streikenden ist seit dem 6. Juni ausgesetzt. Im Lokalen scheint der von den Universitäten angeregte konstruktive Dialog bereits zu funktionieren: Das Forum „Crisis y Conflicto en Colombia”, an dem auch renommierte amerikanische Universitäten beteiligt sind, brachte Ende Mai in Cali den Direktor der Handelskammer, den Sprecher des Armenviertels Siloé, einen Polizeigeneral und Vertreter des Indigenen Rates gemeinsam an einen Tisch.

Martina Schulze (7. September 2021)
Der Beitrag ist zuerst in „Forschung & Lehre“ Ausgabe 9/21 erschienen.

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