Montreal und Jerusalem: Digitalisierte Erinnerungskultur durch zentrenübergreifende Vernetzung
DAAD/Territory
Die Zentren für Deutschland- und Europastudien (ZDES) in Montreal und Jerusalem haben gemeinsam ein Vernetzungsprojekt auf die Beine gestellt.
Vor über 30 Jahren nahmen an den US-amerikanischen Universitäten in Berkeley, Georgetown und Harvard die ersten drei Zentren für Deutschland- und Europastudien (ZDES) ihre Arbeit auf. Die aus Mitteln des Auswärtigen Amts (AA) finanzierte DAAD-Förderung hat inzwischen zu einem weltumspannenden Netz aus insgesamt 20 Zentren geführt. Zum Jubiläum stellen wir in einer Serie die Arbeit einiger Standorte näher vor. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht eine Kooperation zwischen dem CCEAE Montreal und dem CGS Jerusalem im Bereich digitale Geisteswissenschaften.
Zu erfahren, wie das gegenwärtige Deutschland international wahrgenommen wird, sich darüber interdisziplinär auszutauschen und auf wissenschaftlicher Ebene Freundinnen und Freunde Deutschlands im Ausland zu finden – das sind die wichtigsten Ziele der 20 weltweit vertretenen Zentren für Deutschland- und Europastudien. „Heute, 30 Jahre nach Programmstart, bilden sie ein einzigartiges Netzwerk von Einrichtungen an herausragenden akademischen Standorten, wo sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen und Disziplinen mit der Rolle Deutschlands beschäftigen“, sagt Georg Krawietz, Leiter des DAAD-Referats Projektförderung deutsche Sprache und Forschungsmobilität (PPP). Dass sich die Zentren auch untereinander vernetzen, ist ein wichtiger Nebeneffekt der globalen Arbeit. Genau aus diesem Grund fördert der DAAD regelmäßig Projekte, die der Kooperation zwischen verschiedenen Standorten dienen.
Mit digitaler Technik neue Perspektiven öffnen
Eines dieser Vernetzungsprojekte ist ein Workshop zum Thema „Going Digital with Difficult Histories“, den Laurence McFalls vom „Centre canadien d’études allemandes et européennes“ (CCEAE) an der Université de Montréal und Tobias Ebbrecht-Hartmann vom Center for German Studies (CGS) an der Hebräischen Universität von Jerusalem gemeinsam organisieren. Wie können digitale Technologien und Medien bei der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und der Förderung einer lebendigen Erinnerungskultur helfen? Und wie lassen sich diese Medien bei der Vermittlung deutscher Geschichte einsetzen? Darüber haben sich rund 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt im Oktober zunächst virtuell ausgetauscht. Im November wird diese Diskussion in Berlin fortgesetzt.
„Wir wollen herausfinden, wie Lehrende und Forschende im Feld der German Studies vor allem bei schwierigen Episoden der deutschen Geschichte, wie dem Holocaust oder dem DDR-Regime, über digitale Wege neue Perspektiven öffnen können“, berichtet Ebbrecht-Hartmann. Die Teilnehmenden kommen sowohl aus dem geisteswissenschaftlichen als auch aus dem technologischen und dem medialen Umfeld. „Wir haben bewusst Kolleginnen und Kollegen sowie Studierende an einen Tisch geholt, die sich selbst schon länger mit digitalen Geisteswissenschaften beschäftigen und dabei speziell an Ideen zur Erinnerungskultur arbeiten“, sagt McFalls. Schließlich stehen alle aktuell vor ähnlichen Herausforderungen bei der noch vergleichsweise jungen Disziplin. Wie lassen sich technische Probleme lösen, wie verschlagwortet und kuratiert man digitale Sammlungen, welche Persönlichkeits- und Autorenrechte müssen berücksichtigt werden? Und wie ändert sich die Deutung von Sachverhalten, wenn man mit digital bearbeiteten Medien plötzlich andere Blickwinkel entstehen lassen kann?
Tobias Ebbrecht-Hartmann lehrt in Israel am Center for German Studies (CGS) an der Hebräischen Universität von Jerusalem deutsche Kulturgeschichte.
Zufallsbekanntschaft dank Zentrumsarbeit
Dass ein kanadischer Politikwissenschaftler diesen Workshop gemeinsam mit einem deutschen Filmwissenschaftler initiiert, der in Jerusalem deutsche Kulturgeschichte lehrt – allein das ist eine Erfolgsgeschichte des Zentrennetzwerks. „Das Netzwerk bietet ein Umfeld, in dem sich viel entwickeln kann – manchmal parallel, manchmal gemeinsam“, beobachtet Ebbrecht-Hartmann. Er hat Laurence McFalls 2016 in Washington auf der alle zwei Jahre an wechselnden Orten stattfindenden ZDES-Konferenz kennengelernt. Schnell stellten sie aufgrund ihrer Vorträge und Gespräche eine Gemeinsamkeit fest: ihre Faszination für visuelle Erinnerungskultur. „Ich arbeitete zu der Zeit mit Hochdruck an meinem Projekt Open Memory Box“, erzählt McFalls. Dahinter verbirgt sich die weltgrößte Digitalsammlung privater DDR-Schmalfilme. Online lassen sich die Filme nicht nur traditionell über ein verschlagwortetes Archiv und Kurzfilm-Montagen aufrufen, sondern auch über ein sogenanntes Anti-Archiv. Dieses zeigt zu einem bestimmten Stichwort beliebig zusammengestellte Zwei-Sekunden-Sequenzen. „Unser Ziel ist es, mit diesem filmischen Gedächtnis eine gänzlich neue Perspektive auf das Alltagsleben in der DDR zu eröffnen und Stereotype aufzubrechen“, erklärt der DAAD-Alumnus.
Der Politikwissenschaftler Laurence McFalls ist am „Centre canadien d’études allemandes et européennes“ (CCEAE) an der Université de Montréal in Kanada tätig.
Zusammenarbeit über Grenzen hinweg
Sein in Jerusalem tätiger deutscher Kollege wurde sofort hellhörig: Ebbrecht-Hartmann war schon allein aufgrund seines filmischen Hintergrunds sehr an der Einbindung digitaler Techniken zur Aufbereitung von Geschichte interessiert und forschte bereits auf diesem Gebiet. Inzwischen ist der gebürtige Berliner unter anderem Mitglied im Konsortium des EU-Projekts „Visual History of the Holocaust“. Hier entsteht ein großes Online-Repositorium mit digitalisierten Filmen, die die Befreiung der Konzentrationslager dokumentieren. „Unser Feld ist dabei sozusagen das Nachleben dieser Filme. Wie können wir diese Quellen mittels digitaler Techniken weiter oder anders studieren?“
Nach ihrem ersten Treffen hielten die beiden Forscher weiter Kontakt, auch über das Netzwerk der ZDES. So fand etwa Ende 2019 eine Doktorandenkonferenz an den beiden israelischen Zentren in Jerusalem und Haifa statt, für deren Organisation Ebbrecht-Hartmann mitverantwortlich war. „Meine Idee war es, auch etwas zu den Möglichkeiten digitaler Geisteswissenschaften beim Studium von Zäsuren der deutschen Geschichte anzubieten“, erinnert er sich. „Und da war klar, dass Laurence die Open Memory Box vorstellen muss.“ Als der DAAD dann im Juni 2021 Fördergelder für Vernetzungsprojekte innerhalb der Zentren ausschrieb, reagierte McFalls sofort: „Tobias, lass uns gemeinsam etwas auf die Beine stellen.“
Eine Plattform für weitere Kooperationen
Der aktuelle Workshop soll ein erster Aufschlag sein – und Basis für weitere gemeinsame Forschungsprojekte und Kooperationen. „Perspektivisch kann ein ‚digital German studies network‘ entstehen“, hofft McFalls. Vielleicht sogar eine gemeinsame Plattform, die alle Projekte und Ansätze zu digitaler Erinnerungskultur im Bereich Deutschlandstudien vernetzt. „Und jeder, der irgendwo auf der Welt deutsche Geschichte lehrt, kann sich dort bedienen und Tools für den Unterricht oder seine Forschung raussuchen.“ Fest steht bereits, dass die beiden Wissenschaftler die Ergebnisse des Workshops 2022 auf der nächsten großen Zentrenkonferenz vorstellen möchten. Idealerweise finden sich hierüber auch weitere Kooperationspartner aus den Reihen der ZDES. „Das Thema Erinnerung spielt schließlich eine bedeutende Rolle bei unser aller Arbeit“, sagt Tobias Ebbrecht-Hartmann.
Melanie Rübartsch (9. November 2021)
Weitere Informationen
Deutschland verbindet – die Zentren für Deutschland- und Europastudien (ZDES)
Der DAAD fördert mit Mitteln des Auswärtigen Amts aktuell 20 interdisziplinäre Zentren für Deutschland- und Europastudien an herausragenden ausländischen Hochschulen. Die Zentren bilden Deutschland- und Europaexpertinnen sowie -experten aus und führen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit in der Beschäftigung mit Deutschland und Europa zusammen.
Ziel des Programms: Die Zentren sollen eine neue Generation von Expertinnen und Experten mit fundierten Deutschland- und Europakenntnissen hervorbringen, die den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs über Deutschland und Europa in ihrer Region mitprägen.
Inhalte: Die ZDES vergeben Stipendien an begabte Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, bieten innovative Master- und Doktorandenprogramme an und haben eine interdisziplinäre sowie gegenwartsbezogene Forschung an ihren Standorten implementiert.
Der Beginn: Die ersten drei Zentren wurden 1990 als Centers of Excellence in den USA an den Universitäten Berkeley, Harvard und Georgetown gegründet. Die damalige Bundesregierung wollte die deutsch-amerikanischen Beziehungen, insbesondere die Wissenschaftskooperation, intensivieren.
Das Netzwerk heute: Überblick über alle Standorte.