Libanon: Ein Land der zerstörten Hoffnungen

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Das neue Wahrzeichen von Beirut im Libanon: Das Silo im Hafen wurde bei der Explosion am 4. August 2020 zerstört.

Als Prof. Dr. Markus Schmitz 2021 für eine Langzeitdozentur nach Beirut zurückkehrte, wo er vor 20 Jahren schon einmal gelebt und geforscht hatte, erkannte der vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaftler die Stadt kaum wieder: Fortgesetzte Korruption, Corona, die anhaltende Wirtschaftskrise sowie die verheerende Explosion 2020 haben den Menschen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft geraubt. Viele deutsche Hochschulen halten sich deshalb aktuell mit Kooperationen zurück, bemerkt Schmitz.

Der Libanon befindet sich schon als Folge einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen der Geschichte und der Coronapandemie am Boden. Da versetzt ihm die Explosion im Hafen der Hauptstadt Beirut am 4. August 2020 einen weiteren Tritt und zerstört das letzte Vertrauen in die Politik sowie in eine bessere Zukunft. Bei der für den 15. Mai 2022 geplanten Parlamentswahl wollen enttäuschte Bürgerinnen und Bürger der Regierung endlich die Quittung für ihr Versagen ausstellen. Doch selbst diese Hoffnung könnte sich auflösen, sollte die Wahl, wie einige befürchten, wieder einmal verschoben oder schlicht keine ausreichende Mehrheit für einen echten Wandel erreicht werden. 

In dieser Gemengelage tritt Markus Schmitz im Juni 2021 seine DAAD-Langzeitdozentur an der Lebanese University in Beirut an. „Eigentlich wäre ich kurz nach der Hafenexplosion 2020 angekommen, habe die Anreise aufgrund von Corona aber doch noch einmal verschoben“, erzählt er. „Unmittelbar nach der Explosion wollte ich nicht ungeimpft in den Libanon reisen.“ Schmitz will mindestens zwei Jahre bleiben, mit Option auf bis zu drei Jahre Verlängerung.

Libanon: Ein Land der zerstörten Hoffnungen

Philip Radowitz

Prof. Dr. Markus Schmitz vor dem Hafen von Beirut. Der 53-jährige Anglist kam 2021 für eine Langzeitdozentur in die Hauptstadt des Libanon.

Ehemalige Partyhochburg des Nahen Ostens
Anfang der 2000er Jahre lebte der habilitierte Experte für anglophone-arabische Literaturen und Kulturen schon einmal für ein halbes Jahr in der Mittelmeermetropole, um dort für seine Promotion zum Thema „Kulturkritik ohne Zentrum: Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation“ zu recherchieren. Damals sah es so aus, als könnte Beirut an seine Blütezeit in den 1950er und 1960er Jahren anschließen, als die Stadt „Paris des Nahen Ostens“ genannt wurde. „Alle dachten, der Libanon hätte den Bürgerkrieg endgültig hinter sich. Das Land boomte touristisch, und Beirut galt als kultureller Hotspot der Region.“ Aus der ganzen Welt kamen Menschen in die Stadt, um den Frieden und den Aufbruch zu feiern.

Heute läuft die Bewegung in die andere Richtung. „Die allermeisten meiner befreundeten Kolleginnen und Kollegen haben das Land nach der Explosion verlassen“, sagt Schmitz. „Fast täglich wird mir die Frage gestellt: Wieso kommst du in den Libanon, während wir alle rauswollen?“, erzählt der 53-Jährige. „Und natürlich habe ich mir die Frage selbst oft gestellt.“ Also, warum?

Größte Hochschule des Landes
Nach einem Studium der Orientalistik und Politikwissenschaft sowie der anglophonen Literatur- und Kulturwissenschaft arbeitete Schmitz in verschiedenen Funktionen an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, zuletzt als Akademischer Oberrat für Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Postkoloniale Theorie und Medienwissenschaft. „Nachdem die Verbeamtung auf Zeit auslief, suchte ich nach neuen Perspektiven, um weiter forschen zu können“, erläutert er seine Beweggründe. „Deshalb habe ich mich 2019 um die Langzeitdozentur in Beirut beworben.“

Die Lebanese University ist die einzige staatliche Einrichtung ihrer Art in der ansonsten von privaten Trägern dominierten Hochschullandschaft und mit mehr als 80.000 Studierenden die größte Hochschule des Landes mit einer einzigartig diversen Studierendenschaft. Die Doctoral School of Literature, Humanities and Social Sciences, wo Schmitz lehrt, ist nicht an eine der 16 Fakultäten angeschlossen. „Ich unterrichte Doktorandinnen und Doktoranden in fächerübergreifenden Vorlesungen und Workshops. Darin geht es um sehr generelle Themen wie Interdisziplinarität, konkurrierende Theorieschulen und Methodologien sowie die grundsätzliche Frage, wie man ein Forschungsprojekt konzeptionalisiert“, berichtet der Wissenschaftler. „Bisher fehlt ein entsprechendes Curriculum. Das baue ich gemeinsam mit dem Dekan derzeit auf.“ Daneben betreut Schmitz Doktorandinnen und Doktoranden individuell bei ihrer Promotion. Insgesamt gibt es in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern der Universität über 1.000 Promovierende.

Libanon: Ein Land der zerstörten Hoffnungen

Dr. May Abdallah

Regelmäßig nimmt der Langzeitdozent Prof. Dr. Markus Schmitz an Konferenzen teil, um sich in der Hochschullandschaft des Libanon zu vernetzen.

Zu seinen Aufgaben als Langzeitdozent gehört es auch, binationale Forschungskooperationen zwischen dem Libanon und deutschen Hochschulen zu initiieren. Dabei arbeitet Schmitz eng mit dem Orient-Institut Beirut der Max-Weber-Stiftung zusammen, das seit der Gründung 1961 Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften mit Bezug auf die arabische Welt und den weiteren Mittleren Osten fördert und betreibt. „Außerdem habe ich sehr früh meine Kontakte an deutschen Hochschulen wissen lassen, dass ich in Beirut bin“, erzählt Schmitz. „Anfangs wird durchaus Interesse an der Zusammenarbeit signalisiert. Aber sobald es konkreter wird, kommt die wirtschaftliche, politische und soziale Krise des Libanon ins Spiel“, bedauert er.

Täglicher Überlebenskampf
Diese behindert auch den Unibetrieb, der unter anderem durch die ständigen Strom- und Internetausfälle geprägt ist. „Täglich gibt es nur ein bis zwei Stunden staatlichen Strom. Den Rest der Zeit kommt der Strom aus Generatoren. Diese benötigen aber Diesel, der für die chronisch unterfinanzierte Doctoral School kaum bezahlbar ist“, beschreibt Schmitz den Hochschulalltag. In den vergangenen Monaten blieb die Universität zudem mehrfach wegen Streiks vorübergehend geschlossen.

Ein zentrales Problem ist die Hyperinflation, die durch das Staatsdefizit und den Verfall des libanesischen Pfunds ausgelöst wurde. So sollen die Preise für Lebensmittel seit 2019 um mehr als 400 Prozent gestiegen sein. „Ein Vollprofessor verdient derzeit umgerechnet etwa 240 Dollar, und das in einer der teuersten Städte der Region“, berichtet der Langzeitdozent. „Etwa 70 Prozent der Menschen im Land gelten inzwischen als arm. Auch viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler brauchen Zweit- und Drittjobs, verkaufen Wertgegenstände oder verschulden sich, einige erhalten Unterstützung aus dem Ausland.“ 

Gerade vor diesem Hintergrund bewundert Schmitz das Engagement seiner einheimischen Kolleginnen und Kollegen, die dem Land noch nicht den Rücken gekehrt haben und den Hochschulbetrieb mit ihrem Idealismus aufrechterhalten. „Mein Respekt gilt aber auch den Doktorandinnen und Doktoranden, denn eine Promotion kostet viel Geld und Stipendien sind rar. Viele können sich kaum das Benzin leisten, um zur Universität zu fahren.“

Perspektivwechsel in vielerlei Hinsicht
Seiner eigenen Forschung kann er dagegen bislang fast nur in der Freizeit nachgehen. Dann beschäftigt er sich mit literarischen und künstlerischen Imaginationen von Fluchtmigration aus der Region. „Die Quellenlage hier vor Ort ist gut.“ Hinzu kommt, dass im Libanon rund eine Million syrische Geflüchtete leben, etwa ein Sechstel der Bevölkerung, die vom DAAD im Rahmen des Programms HOPES (Higher and Further Education Opportunities and Perspectives for Syrians) unterstützt werden. 

„Leider bin ich in den ersten Monaten kaum zu dem gekommen, was ich mir vorgenommen habe“, erzählt Schmitz. „Der Lebensalltag braucht schon viel Energie. Man weiß nie, was die kommenden Tage bringen: Versorgungsengpässe, Demonstrationen, Zusammenbrüche der Infrastruktur.“ Manchmal stehe man vergeblich mehrere Stunden für Benzin an. Um gegen die ständigen Stromausfälle halbwegs gewappnet zu sein, hat er seine Wohnung mit einer starken Lithium-Batterie ausgerüstet. „Hier ist man eher irritiert, wenn das Licht wieder angeht“, scherzt er.

Libanon: Ein Land der zerstörten Hoffnungen

Philip Radowitz

In seiner knappen Freizeit besucht Prof. Dr. Markus Schmitz andere Landesteile und Sehenswürdigkeiten wie die römischen Tempelanlagen von Baalbek.

Die Wochenenden nutzt der Wissenschaftler vor allem für Ausflüge zum Wandern in die Berge der Umgebung oder den Besuch von Ausstellungen. Abends geht er dagegen selten aus. „Die Stadt ist nicht mehr so ausgehfreudig wie früher“, sagt Schmitz. Einerseits, weil es sich viele Menschen schlicht nicht mehr leisten können. Andererseits, weil die Explosion vom August 2020 die ehemals vibrierendsten Viertel getroffen hat. „Wer die Stadt wie ich von früher kennt, der sagt: Das ist nicht Beirut.“

Doch inzwischen hat sich Markus Schmitz mit der Situation arrangiert. „Die Umstände sind oft traurig, und das Leben ist nicht immer schön, aber definitiv spannend und lehrreich. Der Zeitraum, seitdem ich in Beirut bin, kommt mir viel länger vor als zehn Monate. Hier treten Themen wie die Coronapandemie deutlich in den Hintergrund, weil es Probleme gibt, die einfach wichtiger sind“, so sein Zwischenfazit. „Ich frage mich nicht mehr so oft wie am Anfang meiner Langzeitdozentur, ob es die richtige Entscheidung war. Wenn man etwas für die Zivilgesellschaft tun will, dann muss man den Bildungsbereich unterstützen.“

Peter Nederstigt (12. April 2022)

Drei Fragen an Prof. Dr. Markus Schmitz

Das Besondere am Libanon … 
… sind die ethnische und konfessionelle Diversität, die äußerlich eher gedrängte Vielfalt der Lebenswirklichkeiten und die vielen Konflikte, die sich entlang dieser Grenzen vollziehen. 

Wer (derzeit) nach Beirut reist, sollte unbedingt … 
… darauf gefasst sein, ein Land im permanenten Ausnahmezustand anzutreffen, und eine Taschenlampe mitbringen.

Über eine Langzeitdozentur sollte nachdenken, wer … 
... die Herausforderung sucht, den eigenen beruflichen und privaten Alltag neu zu erlernen, und dazu bereit ist, in Deutschland erlernte Selbstgewissheiten zu hinterfragen.