Mexiko – Land der Widersprüche

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Dr. Marion Röwekamp in der Casa Lamm in Mexiko-Stadt im Kontext der Themensaison „Humboldt y las Américas“. 

Mexiko kann auf eine bewegte Geschichte zurückblicken, die sich nicht nur in der Vielzahl an UNESCO-Welterbestätten zeigt. Das größte spanischsprachige Land der Welt wird seit Jahrhunderten von gegensätzlichen gesellschaftlichen wie politischen Interessen bestimmt. Die DAAD-Gastprofessorin Dr. Marion Röwekamp lebt seit 2018 in der Megametropole Mexiko-Stadt und übt sich in der Wissenschaftsdiplomatie.

Wie objektiv kann Geschichtsschreibung sein? Wann kann sie als beendet gelten? Die Historikerin und Juristin Dr. Marion Röwekamp hat dazu eine klare Meinung: nie. „Geschichtsschreibung ist immer von politischen Interessen geprägt und damit ein nie abgeschlossenes Projekt“, stellt die Amtsinhaberin des Wilhelm und Alexander von Humboldt-Lehrstuhls am Colegio de México (COLMEX) fest. Sie ist nicht nur die erste Frau an dem vom DAAD geförderten Lehrstuhl, sondern auch die erste Person, die sich primär mit deutscher und europäischer Geschichte und deren Auswirkung auf Lateinamerika befasst.

Hochkulturen wie die der Mayas oder der Azteken, die 300-jährige spanische Kolonialherrschaft, der Unabhängigkeitskrieg Anfang des 19. Jahrhunderts sowie die mexikanische Revolution ein Jahrhundert später haben das Land geprägt und Spuren hinterlassen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist für Röwekamp vor allem die Zeit nach der Revolution hochinteressant: „Im bisherigen Narrativ der Geschichtsschreibung spüre ich viele Widersprüche“, erzählt die gebürtige Marburgerin. Seit dem bewaffneten Kampf gegen die Diktatur von Porfirio Díaz versuche das Land, seine Identität zu finden, was in Anbetracht der vielen Ethnien und Gesellschaftsklassen eine Herausforderung sei. Kritisch sieht sie, dass dabei die Deutung der Vergangenheit zum Teil bewusst manipuliert und verfälscht werde. „Es ist spannend zu sehen, wie Historikerinnen und Historiker Teil dieses Prozesses sind, dies aber häufig gar nicht reflektieren“, bemerkt Röwekamp. Das gelte für Mexiko genauso wie für Deutschland.

Internationale Politik und die Rolle der Wissenschaft
Die Entscheidung des DAAD über die Förderung einer Langzeitdozentur hängt von verschiedenen Kriterien ab. Im Fall von Dr. Marion Röwekamp waren insbesondere wissenschafts- und kulturpolitische Kriterien maßgebend für ihre Besetzung. Während die Lehrlast am COLMEX laut Röwekamp niedrig ausfalle, stehe für sie die Wissenschaftsdiplomatie (Science Diplomacy) im Fokus ihrer Arbeit: der Austausch mit Universitäten sowie mit DAAD-Alumnae und -Alumni im Land und darüber hinaus in Zentralamerika, aber auch die Repräsentation Deutschlands.

Das Einbeziehen wissenschaftlicher Expertise im Kontext internationaler Politik hat – nicht zuletzt durch die Coronapandemie – an Relevanz gewonnen. Deshalb treten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer auch als Botschafterinnen und Botschafter ihres Heimatlandes auf. „Meine eigenen Themen, etwa meine Forschungen zum Kampf von Frauen um gleiche Rechte, kamen in den letzten Jahren definitiv zu kurz“, verrät die Inhaberin des Humboldt-Lehrstuhls und ergänzt: „Dafür bin ich aber zu einer Spezialistin für Deutschland im Allgemeinen geworden. In diesem Kontext habe ich eine Reihe von Tagungen zu Themen organisiert, die ich gesellschaftlich für wichtig halte, etwa die Schwächung der Demokratie.“

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Dr. Marion Röwekamp (r.) an der Seite von Dr. Katharina Fleckenstein, Leiterin der DAAD-Außenstelle Mexiko-Stadt, die für die Region Mexiko, Zentralamerika und Karibik zuständig ist.

Alexander von Humboldts Denkweise in neuem Licht
Anlässlich des 250. Geburtstags des Forschers Alexander von Humboldt rief das Auswärtige Amt 2019 die Themensaison „Humboldt y las Américas“ aus. In diesem Kontext wurde Röwekamp für Vorträge zu mehreren Veranstaltungen eingeladen – der Auftakt ihrer Tätigkeit als Wissenschaftsdiplomatin. Die Historikerin erinnert sich noch lebhaft daran, wie schwer es ihr fiel, eine geeignete Ansprache für ein breites Publikum zu finden. „Als wissenschaftlich arbeitende Person ist man oft sehr spezialisiert. Häufig fehlt einem der Bezug zum großen Ganzen“, bemängelt sie. Heute sei das bei ihr anders: „Ich möchte bei meinen Tagungen wirklich alle im Publikum abholen.“

In ihrer Zeit in Mexiko sei sie nicht nur wissenschaftlich über sich hinausgewachsen, sondern habe auch verstanden, wie wichtig gute wissenschaftliche Kommunikation über das eigene Fach hinaus sei. „Sich einen Überblick zu verschaffen in der Wissenschaft und in einer Welt, die immer komplexer wird, sehe ich mittlerweile als wichtige Voraussetzung für meinen Job an“, stellt sie fest. Mit dieser Auffassung ist die ehemalige Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung dem Naturforscher und Namensgeber ihres Lehrstuhls heute näher denn je: Auch Alexander von Humboldt war zeit seines Lebens damit beschäftigt, die Gesamtzusammenhänge in der Natur wie auch in der Welt zu verstehen.

Gesellschaftliche Herausforderungen – eine Frage der Perspektive?
Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Wissenschaftlerin in einem fremden Land zurechtfinden muss. Ihre ersten Jahre verbrachte Röwekamp in San Diego; dort war ihr Vater, ein deutscher Biologe, an der University of California San Diego (UCSD) tätig. Zur Schule ging sie wiederum in Heidelberg, kehrte aber später für ihre Promotion und zum Arbeiten zurück in die USA. Diesmal allerdings in Richtung Ostküste: an die Columbia University in New York City, die Harvard University in Cambridge, Massachusetts, sowie an das Mount Holyoke College in South Hadley, Massachusetts, einem der ersten Frauen-Colleges in den USA. In New York lernte sie auch ihren jetzigen Partner kennen, dessen Eltern spanische Exilanten sind, die in Mexiko leben.

Jedes Land hat seine eigenen Herausforderungen. Wer sie ins Verhältnis setzt, kommt oft zu neuen Einsichten. Auch Röwekamp kann bestätigen: „Zu sehen, dass Schwierigkeiten in Deutschland im Vergleich zu denen in Mexiko doch oft Luxusprobleme sind, hat meinen Blick auf die Welt verändert.“ Nach vielen Jahren der Oligarchie in Mexiko sei das Land nun bereit für einen Wandel, stellt sie fest. In die Pläne des neuen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador setzten vor allem ärmere Bevölkerungsschichten große Hoffnungen. „Ich selbst bewege mich ohne Furcht in Mexiko-Stadt“, erzählt die Hochschuldozentin. Im selben Atemzug gibt sie zu bedenken: „Das gilt aber nicht im ganzen Land, wo die Sicherheitslage zum Teil kritisch ist.“

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Mit dem Fahrrad unterwegs in Mexiko-Stadt. 

Soziale Ungleichheit, Migration, Klimawandel
Mit welchen Gefühlen blickt die junge Generation in die Zukunft? Wie verarbeiten Studierende in Mexiko aktuelle gesellschaftliche Ereignisse? Großes politisches Engagement kann Röwekamp insbesondere an den großen öffentlichen Universitäten wie der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) beobachten. Themen wie Femizid oder strukturelle Gewalt gegen Frauen in der Gesellschaft beschäftigten vor allem Hochschülerinnen. Generell bewege alle die Frage, welchen Umgang man mit den 2014 verschleppten und ermordeten Studierenden finden solle. Die Gruppe von Studierenden wurde bei einer Exkursion in Guerrero von Polizisten entführt. Die Hintergründe der Tat sind bis heute nicht vollständig geklärt.

Ein starker Änderungswille treibt zahlreiche junge Menschen auf die Straße. Ihr Engagement zeigt sich aber auch in den universitären Abschlussarbeiten: Die Gastprofessorin stellt fest, dass sich Hochschülerinnen und -schüler zunehmend mit Lösungsansätzen zu Themen wie sozialer Ungleichheit, Migration oder Klimawandel beschäftigen. „Auch bei mir sind neue Forschungsinteressen entstanden“, erzählt sie und ergänzt: „Zum Beispiel, was das Thema Schutz des Klimas im Recht betrifft.“

Röwekamps Lehrauftrag endet voraussichtlich im Juli 2023. Für die Zeit danach hat sie bisher nur vage Pläne. In Mexiko zu bleiben, wäre eine Option. Gegen einen neuen Perspektivwechsel, zum Beispiel eine Professur in Kalifornien, hätte sie auch nichts einzuwenden.

Mexiko – Land der Widersprüche

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Dr. Marion Röwekamp und Familie bei einem Ausflug zu den monumentalen Pyramiden von Teotihuacán, rund 45 Kilometer nordöstlich von Mexiko-Stadt. Zu den berühmtesten Bauwerken gehören die Sonnenpyramide und die Mondpyramide. 

Jasmin Shamsi (13. Dezember 2022)