Juniorprofessur in Toronto: „Man braucht ein wirklich durchdachtes Konzept“

Privat

Lehrt seit drei Jahren Political Science in Kanada: Dr. Micha Fiedlschuster.

Post-Doc-Stelle in Deutschland suchen oder Assistant Professor in Kanada werden? Der Politikwissenschaftler Dr. Micha Fiedlschuster entschied sich 2020 für Letzteres und lehrt seither – unterstützt durch das DAAD-Programm „German Studies Dozenturen in Nordamerika“ – an der York University in Toronto. Dabei musste er sich nicht nur in eine völlig neue Rolle einfühlen, sondern hatte auch mit den besonderen Schwierigkeiten mitten in der Coronapandemie zu kämpfen.

Es begann mit einer Zitterpartie. „Sechs Monate – so lange zog sich im ersten Coronajahr die Entscheidung hin, ob ich die Stelle überhaupt antreten kann“, rekapituliert Dr. Micha Fiedlschuster seinen eher gebremsten Start als Assistant Professor an der York University in Toronto. „Ich bekam die Zusage im März 2020. Aber letztendlich habe ich bis September gezittert, weil ich die Arbeitserlaubnis brauchte – und die bekommt man nur vor Ort, im Land selbst. Schließlich entschied die Regierung in letzter Minute, dass essential workers noch nach Kanada einreisen dürfen – und ich gehörte zum Glück dazu. Ich bin dann sofort übers Wochenende nach Toronto geflogen und habe in der Quarantäne meine ersten Lehrveranstaltungen organisiert.“ Auch bei der Wohnungssuche hatten Fiedlschuster und seine Frau Glück: „Wegen Corona zogen viele Menschen aus Toronto, einer der teuersten Städte in Nordamerika, weg. Daher war der Mietmarkt ausnahmsweise einigermaßen entspannt. Dennoch blieb es eine echte Herausforderung, unter diesen Bedingungen zu starten. Toronto hatte einen der schärfsten Lockdowns Kanadas, monatelang war nahezu alles geschlossen. Das erste Semester, in dem es wirklich nennenswert Präsenzunterricht gibt, erlebe ich in diesem Winter. Und erst jetzt, in meinem dritten Jahr hier, habe ich überhaupt ein Büro auf dem Campus.“

Positives Deutschlandbild
Doch so widrig die Lage auch war, Micha Fiedlschuster kam mit einem großen Plus an die York University: Er kannte sich hier bereits bestens aus. Nach dem Magister in Leipzig hatte der Politologe in Toronto 2011 einen Master in Political Science draufgesattelt, 2018/2019 kehrte er nochmals für eine Post-Doc-Stelle zurück. „Dabei hörte ich erstmals von der DAAD-Langzeitdozentur. Und als die Stelle frei wurde, habe ich mich sofort darauf beworben“, erzählt der 40-Jährige. 

York University ist eine relativ junge Hochschule: Gegründet wurde sie 1959, „in der damals wie heute schnell wachsenden Stadt Toronto mit vielen jungen Menschen, die studieren wollen“, wie Fiedlschuster sie charakterisiert. Das zeige auch die Zusammensetzung der rund 55.000 Studierenden: „York ist eine multikulturell geprägte Universität, an der sich Kanadas gesellschaftliche Diversität in ihrer ganzen Breite studieren lässt.” Die Bachelor-Studierenden kämen überwiegend aus der Region, oft seien es Kinder von Einwandererfamilien – die erste Generation, die studiere. „Viele von denen, die meine Seminare über europäische oder deutsche Politik besuchen, haben familiäre Wurzeln in Europa. Und sie wollen zum Beispiel über Deutschland mehr erfahren wegen seiner speziellen Historie oder weil es Europas Industrie-Champion ist. Viele interessieren sich aber auch für unser Land, weil es eine starke Umweltbewegung entwickelt hat. Oder weil es 2015 auf eine Art und Weise mit dem Phänomen der Migration umgegangen ist, die das Deutschlandbild im Einwanderungsland Kanada sehr positiv geprägt hat.“

Juniorprofessur in Toronto: „Man braucht ein wirklich durchdachtes Konzept“

Alexi Tauzin – stock.adobe.com

Eine der drei Universitäten von Toronto: Campus der York University.

Nebenjob Cultural Studies
Trotz des bisher überwiegend virtuellen Lehrbetriebs fühlte sich Fiedlschuster an der Hochschule gleich gut aufgenommen. „Ich habe als Assistant Professor im Prinzip die gleichen Rechte und Pflichten wie jeder andere Professor. Und ich kann meine Veranstaltungen inhaltlich relativ frei gestalten und Themen wählen, die meiner Forschung und meiner Kompetenz entsprechen.“ Wobei ihn die Lehre anfangs auf ungewohnte Weise gefordert habe, denn: „Anders als in Deutschland dauern die Veranstaltungen in der Regel nicht 90 Minuten, sondern drei Stunden. Man braucht deshalb ein wirklich durchdachtes Konzept, wenn man es interessant machen und die Studierenden über die ganze Zeit bei der Stange halten will.“

Hinzu kommt, dass zu Fiedlschusters Verpflichtungen an der York University eine Besonderheit zählt: Die Universität unterhielt einige Jahre ein German and European Studies Center, das vom DAAD unterstützt wurde. Das Center gibt es nicht mehr, ein German-Studies-Angebot besteht aber nach wie vor. „Teil meines Vertrags ist, dass ich die Vorlesungen mitbestreite, obwohl es nicht mein Fach ist, sondern die Veranstaltungen eher auf Cultural Studies ausgerichtet sind. Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, man müsse etwa bei Erststudierenden sowieso nicht besonders in die Tiefe gehen. Falsch! Man muss für alle Fälle gewappnet sein – die Teilnehmenden fragen alles. Aber so lernt man selbst natürlich auch noch einiges hinzu.“

Zeitenwende für die Wissenschaft
Frage an den Politologen: Wie wirken sich die aktuell weltweit unruhigeren Zeiten und Krisen auf seine Arbeit und seine Forschung aus? „Ich höre häufiger: Du forschst zur EU-Politik und zu sozialen Bewegungen, da ist ja gerade sehr viel los, oder? Ich kann dann nur antworten: In meiner Disziplin ist immer viel los“, sagt Fiedlschuster. Tatsächlich aber würden sich in seinem Fach fundamentale Verschiebungen vollziehen, die er auch in seinen Veranstaltungen aufgreife. „Noch vor wenigen Jahren schien die Globalisierung unaufhaltsam zu sein – jetzt sind wir definitiv in einer Phase der Deglobalisierung und diskutieren, ob das ein anhaltender Trend ist. Auch der Ukrainekrieg ist in Kanada sehr präsent, was auch daran liegt, dass das Land die drittgrößte ukrainische Bevölkerung der Welt hat.“ Allerdings gebe es auch Bevölkerungsteile, für die etwa Vorgänge in Afghanistan oder Äthiopien viel relevanter seien. Und schließlich bestünden auch in Kanada selbst Konflikte, die Spannungen produzierten – Abspaltungstendenzen zum Beispiel in der Provinz Alberta, die wegen ihres Ölreichtums sehr wohlhabend sei, oder in Quebec wegen des tiefgreifenden Sprachenstreits. „Andererseits eint die Kanadier ein breiter Konsens darüber, dass der Staat bestimmte Aufgaben erfüllen muss: ein Gesundheitssystem zu schaffen, das solide und sozial ist, sowie ein Bildungssystem, das möglichst vielen Teilhabe bietet. Solche Errungenschaften werden hier weit weniger infrage gestellt, als das etwa in den USA der Fall ist.“

Juniorprofessur in Toronto: „Man braucht ein wirklich durchdachtes Konzept“

Privat

Eisige Winter sind garantiert: Micha Fiedlschuster und seine Frau Alia Somani vor der Skyline von Toronto.

Netzwerken auch über den Atlantik hinweg
Zurück zur persönlichen Perspektive: Wie blickt Micha Fiedlschuster auf sein bisheriges Engagement in Toronto – etwa im Hinblick darauf, mit der Dozentur dem deutschen Universitätsbetrieb zumindest zeitweilig den Rücken gekehrt zu haben? „Das ist tatsächlich nicht ganz einfach. Man muss intensiv seine Netzwerke pflegen und immer versuchen, einen Fuß in der Tür zu behalten.“ Aber schon der Zeitunterschied schaffe Probleme: Onlinemeetings der Fachgruppen in der DVPW, der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft, könne er natürlich wahrnehmen, selbst wenn die für ihn sehr früh am Morgen stattfänden. Aber zu einem Workshop kurzerhand nach Europa zu fliegen – das sei nun nicht möglich. „Auf der anderen Seite baue ich mir mit der Dozentur etwas ganz Neues auf. Während ich in Deutschland wohl auf einer Post-Doc-Stelle arbeiten würde, habe ich hier als Juniorprofessor Lehrerfahrung gesammelt und bewiesen, dass ich den Job kann. Das ist natürlich ein großer Schritt für die weitere Laufbahn. Und was das ganz Persönliche angeht: Meine Frau und ich sind in Toronto Eltern geworden – und es ist natürlich klar, dass unsere Familiengründung alle anderen Erfahrungen und Erlebnisse, die ich mit diesem Auslandsaufenthalt verbinde, bei weitem in den Schatten stellt.“

Frank Giese (14. Februar 2023)

Dr. Micha Fiedlschuster über Kanada und Langzeitdozenturen

Das Besondere an Kanada … 
… ist die Multikulturalität.

Wer nach Toronto reist …
… sollte unbedingt entweder das Centre for Indigenous and Canadian Art in der Art Gallery of Ontario mit Ausstellungen indigener Kunstwerke besuchen oder das Aga Khan Museum mit seiner herausragenden Architektur und seinen Ausstellungen zur islamischen Kultur.

Über eine Langzeitdozentur sollten alle nachdenken, die …
… eine universitäre Karriere über den Tellerrand der deutschen Hochschullandschaft hinaus anstreben.